Reminiszenzen zur Geschichte der Christlichsozialen in Österreich. Der Holodomor, die Arbeiter-Zeitung und Kardinal Innitzer (Johannes Schönner)

In den Jahren 1932/33 war es in der Ukraine – und weiteren Gebieten der damaligen Sowjetunion – zu einer Hungerkatastrophe gekommen, die als “Holodomor” (wörtlich “Tod durch Hunger”) in die Geschichte einging. Ausgelöst wurde die Katastrophe durch Maßnahmen Stalins gegen die selbstständigen ukrainischen Bauern (Kulaken), die nicht in die Kolchosen und Sowchosen eintreten wollten. Nach Schätzungen forderten die Repressionen der Sowjets allein in der Ukraine Millionen Opfer.

Wenn gegenwärtig in den Parlamenten weltweit die Frage diskutiert wird, ob der Holodomor in der Ukraine während der Jahre 1932/1933 ein „Genozid” (Bundestag Berlin), ein „schreckliches Verbrechen” (österreichisches Parlament) oder ganz einfach die unvermeidbare Konsequenz eines revolutionären Prozesses (Duma und Putin) war, dann stellt dies eine aktuelle Einordnung dar. Man kann sich gelegentlich des Eindruckes auch nicht erwehren, diese Resolutionen oder Beschlüsse spiegeln vielmehr eine Tagespolitik wider, als einen ernsthaften Versuch das damalige Geschehen zu reflektieren.

Der von Stalin bewusst herbeigeführte und planmäßig organisierte Hungertod von Millionen von Ukrainern (und Kasachen, Wolgadeutschen und anderen Völkern der damaligen Sowjetunion) sollte jedoch auch von Nicht-Ukrainern hinsichtlich seiner zeitgenössischen Rezeption betrachtet werden. Wie wurden die damaligen Vorgänge 1932/1933 in West- und Mitteleuropa wahrgenommen? Konnte man von dieser Katastrophe überhaupt Kenntnis haben?

Ja, dies konnte man.

Vorliegende internationale Nachrichten und Veröffentlichungen geben einen eindeutigen Hinweis darauf, dass der sowjetische Terror im Westen bekannt war. Britische und US-amerikanische Journalisten berichteten über internationale Agenturen darüber im Westen. Der österreichische Chemieingenieur Alexander Wienerberger berichtete ab der Jahreswende 1932/1933 aus den ukrainischen Hungerzentren. Seine Berichte waren keine Geheiminformationen. Bedrückende, erschreckende Fotos wurden von Wienerberger in den Westen geschmuggelt. Ein dokumentarisches Fotoalbum von Wienerberger befindet sich heute im Besitz des Wiener Diözesanarchivs.

Eine andere prominente Quelle verkörperte der britische Reporter und Politikberater Gareth Jones. Ab 1930 arbeitete Jones als Politikberater für den ehemaligen Premierminister David Lloyd George, dessen Memoiren er schrieb. Im Sommer 1931 besuchte er die Sowjetunion. In der Ukraine und in Kasachstan wurde Jones Zeuge des einsetzenden Holodomor. Für die New York Times verfasste er umgehend Berichte, in welchem er explizit Stalins Zwangskollektivierung der Landwirtschaft als Ursache der Hungerkatastrophe benannte. 1932/33 lieferte er aus der Sowjetunion regelmäßig Reportagen an amerikanische, britische und deutsche Zeitungen und Nachrichtenagenturen. Somit war ab 1932/1933 die Informationslage klar: Wer genau hinsah, der musste es wissen.

Das sozialdemokratische Parteiorgan zeigt Verständnis für die Zwangskollektivierung

Interessant ist die zeitgenössische Rezeption sozialdemokratischer und anderer marxistischer Gruppen ab Herbst 1932. Wenngleich die furchtbare Tragweite in der Gänze erst ab 1933 vollends erkennbar war, wurde um die Jahreswende 1932/1933 in der österreichischen sozialdemokratischen „Arbeiter-Zeitung” ohne große Empathie für die Ukrainer berichtet. In einem unsignierten Leitartikel brachte die „Arbeiter-Zeitung” unter dem Titel „Stalin und die Bauern” vom 18. Dezember 1932 sogar großes Verständnis für die sowjetischen Zwangsmaßnahmen und deren Folgen auf: „(…) In einzelnen entlegenen Gebieten der Sowjetunion sei förmliche Hungersnot wiedergekehrt. Den kapitalistischen Klassen Europas sind diese Nachrichten sehr willkommen. Je schwerer die Krise ist, je furchtbarer die Massennot in den kapitalistischen Ländern wird, desto willkommener ist es ihnen, den darbenden Volksmassen sagen zu können: ‚dort wo keine Kapitalisten die Wirtschaft mehr beherrschen, geht es doch auch nicht gut’…Die Gegenrevolution beginnt zu hoffen, dass das Sowjetregime scheitern werde.”


Leitartikel der Arbeiter-Zeitung, 18. Dezember 1932 (klicken Sie hier für eine größere Version)

In den Jahren 1932/33 war es in der Ukraine – und weiteren Gebieten der damaligen Sowjetunion – zu einer Hungerkatastrophe gekommen, die als “Holodomor” (wörtlich “Tod durch Hunger”) in die Geschichte einging. Ausgelöst wurde die Katastrophe durch Maßnahmen Stalins gegen die selbstständigen ukrainischen Bauern (Kulaken), die nicht in die Kolchosen und Sowchosen eintreten wollten. Nach Schätzungen forderten die Repressionen der Sowjets allein in der Ukraine Millionen Opfer.

Wenn gegenwärtig in den Parlamenten weltweit die Frage diskutiert wird, ob der Holodomor in der Ukraine während der Jahre 1932/1933 ein „Genozid” (Bundestag Berlin), ein „schreckliches Verbrechen” (österreichisches Parlament) oder ganz einfach die unvermeidbare Konsequenz eines revolutionären Prozesses (Duma und Putin) war, dann stellt dies eine aktuelle Einordnung dar. Man kann sich gelegentlich des Eindruckes auch nicht erwehren, diese Resolutionen oder Beschlüsse spiegeln vielmehr eine Tagespolitik wider, als einen ernsthaften Versuch das damalige Geschehen zu reflektieren.

Der von Stalin bewusst herbeigeführte und planmäßig organisierte Hungertod von Millionen von Ukrainern (und Kasachen, Wolgadeutschen und anderen Völkern der damaligen Sowjetunion) sollte jedoch auch von Nicht-Ukrainern hinsichtlich seiner zeitgenössischen Rezeption betrachtet werden. Wie wurden die damaligen Vorgänge 1932/1933 in West- und Mitteleuropa wahrgenommen? Konnte man von dieser Katastrophe überhaupt Kenntnis haben?

Ja, dies konnte man.

Vorliegende internationale Nachrichten und Veröffentlichungen geben einen eindeutigen Hinweis darauf, dass der sowjetische Terror im Westen bekannt war. Britische und US-amerikanische Journalisten berichteten über internationale Agenturen darüber im Westen. Der österreichische Chemieingenieur Alexander Wienerberger berichtete ab der Jahreswende 1932/1933 aus den ukrainischen Hungerzentren. Seine Berichte waren keine Geheiminformationen. Bedrückende, erschreckende Fotos wurden von Wienerberger in den Westen geschmuggelt. Ein dokumentarisches Fotoalbum von Wienerberger befindet sich heute im Besitz des Wiener Diözesanarchivs.

Eine andere prominente Quelle verkörperte der britische Reporter und Politikberater Gareth Jones. Ab 1930 arbeitete Jones als Politikberater für den ehemaligen Premierminister David Lloyd George, dessen Memoiren er schrieb. Im Sommer 1931 besuchte er die Sowjetunion. In der Ukraine und in Kasachstan wurde Jones Zeuge des einsetzenden Holodomor. Für die New York Times verfasste er umgehend Berichte, in welchem er explizit Stalins Zwangskollektivierung der Landwirtschaft als Ursache der Hungerkatastrophe benannte. 1932/33 lieferte er aus der Sowjetunion regelmäßig Reportagen an amerikanische, britische und deutsche Zeitungen und Nachrichtenagenturen. Somit war ab 1932/1933 die Informationslage klar: Wer genau hinsah, der musste es wissen.

Das sozialdemokratische Parteiorgan zeigt Verständnis für die Zwangskollektivierung

Interessant ist die zeitgenössische Rezeption sozialdemokratischer und anderer marxistischer Gruppen ab Herbst 1932. Wenngleich die furchtbare Tragweite in der Gänze erst ab 1933 vollends erkennbar war, wurde um die Jahreswende 1932/1933 in der österreichischen sozialdemokratischen „Arbeiter-Zeitung” ohne große Empathie für die Ukrainer berichtet. In einem unsignierten Leitartikel brachte die „Arbeiter-Zeitung” unter dem Titel „Stalin und die Bauern” vom 18. Dezember 1932 sogar großes Verständnis für die sowjetischen Zwangsmaßnahmen und deren Folgen auf: „(…) In einzelnen entlegenen Gebieten der Sowjetunion sei förmliche Hungersnot wiedergekehrt. Den kapitalistischen Klassen Europas sind diese Nachrichten sehr willkommen. Je schwerer die Krise ist, je furchtbarer die Massennot in den kapitalistischen Ländern wird, desto willkommener ist es ihnen, den darbenden Volksmassen sagen zu können: ‚dort wo keine Kapitalisten die Wirtschaft mehr beherrschen, geht es doch auch nicht gut’…Die Gegenrevolution beginnt zu hoffen, dass das Sowjetregime scheitern werde.”

Kardinal Theodor Innitzer. Das Foto entstand im Oktober 1938,
nach dem Sturm der Hitlerjugend auf das Erzbischöfliche Palais

Am 20. August 1933 veröffentlichte Innitzer einen eindringlichen Aufruf, „auf übernationaler und interkonfessioneller Grundlage ein allgemeines Hilfswerk für die in Russland vom Hungertode bedrohten Menschen in die Wege zu leiten”. Unter dem Titel „Kardinal Innitzer ruft die Welt gegen den Hungertod in Russland auf” wurde der Appell über kirchliche Nachrichtenwege in aller Welt verbreitet. Der Wiener Erzbischof stützte sich in seinem Appell auf Augenzeugenberichte, die u.a. der damalige griechisch-katholische Metropolit von Lemberg, Andrij Scheptytzkyj, gesammelt hatte. Lemberg gehörte damals zwar zu Polen, aber der Metropolit hatte gute Verbindungen über die Grenze in die Sowjetukraine.

Am 16. Oktober 1933 versammelten sich Repräsentanten der katholischen, der orthodoxen und der evangelischen Kirche sowie der Israelitischen Kultusgemeinde auf Einladung Kardinal Innitzers im Wiener Erzbischöflichen Palais. In seiner Ansprache sagte der Kardinal, es sei die Mission Wiens, „wo Angehörige aller Konfessionen und Nationalitäten zusammenleben, entsprechend seiner uralten Funktion als Mittler zwischen West und Ost aufklärend zu wirken und die Weltöffentlichkeit zu einer Hilfeleistung für die vom Hunger bedrohten Mitmenschen in Russland einträchtig aufzurufen”. Am 16. und 17. Dezember 1933 fand neuerlich auf Einladung Kardinal Innitzers im Erzbischöflichen Palais in Wien eine internationale Konferenz der Vertreter aller Organisationen statt, die an der Hilfeleistung für die in der Sowjetunion verhungernden Menschen beteiligt waren. In seiner Eröffnungsansprache erklärte der Kardinal, dass es der Zweck der Konferenz sei, das Weltgewissen gegenüber dem Hungerterror in der Sowjetunion aufzurütteln.

Der Konferenz lagen zahlreiche Hilferufe, Berichte und umfangreiches fotografisches Material (A. Wienerberger) vor. In der Abschlussdeklaration wurde klar die vom sowjetischen Regime und dessen Sympathisanten im Ausland oft geleugnete Tatsache der Hungerkatastrophe mit Millionen Opfern angesprochen. Zugleich wurde festgestellt, dass diese Opfer hätten vermieden werden können, wenn man die Getreideüberproduktion aus Nord- und Südamerika in die Häfen der Hungergebiete (Odessa, Krim) gebracht hätte. In der Holodomor-Gedenkstätte in der ukrainischen Hauptstadt Kiew wird bis heute an den Einsatz des Wiener Erzbischofs erinnert.

Für Innitzer war der Holodomor prägend. Seine Abneigung gegen den Marxismus und Bolschewismus steigerte sich und ließ ihn andererseits bedenkliche Entwicklungen auf rechter Seite übersehen. Seine Hilfe war, so wie auch seine dramatische Hilfsaktion für Juden (Erzbischöfliche Hilfsstelle für nichtarische Christen) während des Zweiten Weltkriegs zumeist den jeweiligen Machtverhältnissen angepasst, aber zugleich wirksam.

Dass die Kommunistische Internationale (Komintern, aufgelöst 1943) unbeirrt an der sowjetischen Erzählung festhielt, überraschte nicht. Eine Weltrevolution kann nicht erfolgreich sein, wenn Klassenfeinde selbst in der Sowjetunion diesem Fortschritt hinderlich im Wege stehen.
Die Sowjetunion blieb ein Sehnsuchtsort der europäischen Linken. Auf der Strecke blieben die Ukraine und das Schicksal von Millionen Menschen. Die Folgen und die Bilder, die der Holodomor in Mittel- und Westeuropa fortsetzte, prägte die europäische Geschichte der folgenden Jahrzehnte wesentlich mit.