Schauberger / Schönner: Lueger muss weg! Visionen aus „1984 (Gastbeitrag “Die Presse”, 10.05.2021)

Der Umgang mit Geschichte würde äußerstes Feingefühl und die Fähigkeit zur Differenzierung bedürfen. Wer die Vergangenheit kontrolliert, kontrolliert die Zukunft : Wer die Gegenwart kontrolliert, kontrolliert die Vergangenheit“, so heißt es in George Orwell’s Roman „1984“. Neben „Newspeak“, der von oben verordneten ideologisch konformen Veränderung der Sprache, ist der Versuch, die Vergangenheit nach ideologischen Gesichtspunkten zu korrigieren, eine der offensichtlichsten Parallelen von „1984“ zu unserer modernen Gesellschaft.

In bester Tradition von „Newspeak“ wird der Abriss der Lueger-Statue gefordert und im weiteren Sinne die Zerstörung des öffentlichen Gedächtnisses an seine Leistungen für Wien. Übrig bleiben soll eine Karikatur des primitiven antisemitischen Hetzers. Die selektive Auswahl, welche Größen der Vergangenheit von ihrem Thron zu stoßen sind und welche nicht, entlarvt das Gerede rund um den Sturz Luegers als das, was es ist : Als zutiefst ideologische Politik einer linken NGO.

Dabei würde der Umgang mit Geschichte äußerstes Feingefühl und die Fähigkeit zur Differenzierung und historischen Einordnung bedürfen. Lueger, Renner und Tandler waren bedeutende Politiker, die Großes geleistet haben. Aber sie waren auch Kinder ihrer Zeit und hatten menschliche wie politische Schwächen, die im Hinblick auf das Grauen des Holocaust (ein halbes Jahrhundert später) eine sorgfältige Betrachtung verdienen. Deshalb sind die erklärenden Hinweistafeln beim Lueger-Denkmal zu begrüßen und überall dort, wo Renner und Tandler geehrt werden, umgehend anzubringen. Noch viel schwerer wiegt das irrwitzige Anbiedern jener Politiker an Hitler, die ihn und seine Verbrechen bereits kannten.

Das Lueger-Denkmal wurde 1926 durch die Entscheidung des sozialdemokratischen Bürgermeisters Karl Seitz am heutigen Platz aufgestellt. Das Denkmal selbst wurde ausschließlich von privaten Spenden finanziert, den hohen Sockel finanzierte die rote Wiener Stadtverwaltung. Der Appell von Karl Seitz – „Mögen künftige Generationen sich vor diesem Denkmal eines wichtigen Abschnitts in der Geschichte Wiens erinnern“ – erhielt in Anwesenheit der gesamten sozialdemokratischen Prominenz lebhaften Beifall von allen Seiten.

Beifall von allen Seiten

Frei von jedem Verdacht, Luegers antisemitische Rhetorik beschönigen zu wollen, schrieb der jüdische Journalist Stefan Großmann in der „Arbeiter-Zeitung“ einen bemerkenswerten Nachruf auf Lueger. Im Hinblick auf Luegers angeblichen Antisemitismus kommt er zu folgendem Resümee: „Am wenigsten fest saßen seine antisemitischen Gesinnungen in ihm. Der jüdische Historiker Isak Arie Hellwing urteilt in seiner Studie über den konfessionellen Antisemitismus: Lueger war nie überzeugter Antisemit.“

In einem beschönigenden Kommentar zu Karl Renner stellte die 2. Präsidentin des Nationalrats Doris Bures kürzlich fest : „Eine Bewertung bloß aus heutiger Sicht, in Wohlstand und angenehmer demokratischer Sicherheit, sowie ohne seriöse historische Einordnung vorzunehmen, muss klarerweise zu verzerrten und selbstgefälligen Beurteilungen führen.“ Dem kann zugestimmt werden. Allerdings: Dies darf nicht nur für den roten „Säulenheiligen“ gelten, sondern muss auch Kriterium für andere historische Persönlichkeiten sein.

So bleibt zu hoffen, dass sich die Stadt Wien in dieser Frage nicht von parteipolitischer Emotionalität und juvenilem Aktionismus treiben lässt, sondern von sachlichem Abwägen historisch fundierter Argumente.

Franz Schausberger, Dr. phil. Univ.-Prof. für Neuere Österreichische Geschichte, Präsident des Karl von Vogelsang Instituts, einst Landeshauptmann von Salzburg.
Hannes Schönner, Dr. phil. Historiker, Geschäftsführer des K. v. Vogelsang Inst..

. >>Zum “Die Presse”-Artikel