Dr. Viktor Kienböck

Viktor Kienböck studierte in Wien Rechtswissenschaften und schloss das Studium 1896 mit der Promotion ab; anschließend trat er in die väterliche Anwaltskanzlei ein. Seit früher Jugend war er in der christlichen Arbeiterbewegung tätig. 1910 veröffentlichte die österreichische Gesellschaft für Arbeiterschutz sein „Lohnwucher-Gutachten“, das er als Mitglied des Sozialpolitischen Arbeiterbeirates (1908–14) erstellt hatte. Im Dezember 1914 geriet Kienböck als Landwehroffizier in Serbien in Kriegsgefangenschaft, wurde nach der Räumung Serbiens an Italien ausgeliefert und verbrachte längere Zeit in Albanien. Im Mai 1917 kehrte er als Austauschgefangener zurück und war bis August 1918 im gemeinsamen Ernährungsausschuß in Wien und Budapest tätig. Nach Ausrufung der Republik trat Kienböck als Abgeordneter der christlichsozialen Partei in den Wiener Gemeinderat ein, war Stadtrat und wurde 1920 Bundesrat.

Von 1922-24 war Kienböck zum ersten Mal Finanzminister im Kabinett Seipel I und besaß führenden Anteil an der großen Währungssanierung, die er 1922 durch völlige „Sistierung des weiteren Banknotendruckes“ einleitete, wobei er sich auf kein Vorbild in einem anderen Land berufen konnte. Flankierende Reformen erfolgten auf der Einnahmen- wie auf der Ausgabenseite des Budgets, zum Beispiel durch Neuerung der Warenumsatzsteuer, Regelung der allgemeinen Erwerbssteuer sowie Steuerermäßigungen. Grundlegend war auch die Neuordnung des Eisenbahnwesens sowie die Verwaltungsreform. In der Budgettechnik führte er eine Trennung von laufender und Investitionsgebarung durch. Bei Gründung der neuen österreichischen Nationalbank im Juli 1922 bestand er auf strikter Unabhängigkeit der Leitung gegenüber der Regierung. Das Zolltarifgesetz vom Mai 1924 sowie der Abschluß neuer Handelsverträge sollten der Ausfuhr zusätzliche Impulse schaffen. Trotz seiner Erfolge trat Kienböck 1925 kurzfristig als Finanzminister zurück und veröffentlichte eine Rechtfertigungsschrift „Das österreichische Sanierungswerk“ (1925), worin er sich gegen den Vorwurf verwahrte, man hätte die Wirtschaft vor den Staatsfinanzen sanieren müssen. Ins Kabinett Seipel II (1926–29) trat er neuerdings als Finanzminister ein. Eine seiner schwierigsten Aufgaben bestand in der Liquidierung des Bankenapparates, der – nahezu unverändert aus dem großen Staatsgebiet der Donaumonarchie übernommen – in der Zeit der Inflation zusätzlich aufgebläht worden war und mit der Stabilisierung ein böses Erwachen erfuhr. Auch erwarb er sich Verdienste um die Reform des Finanzausgleiches zwischen Bund und Ländern.

Im Gefolge der Weltwirtschaftskrise geriet im Mai 1931 die Wiener Creditanstalt in größte Schwierigkeiten, so dass ein Abgang von 140 Millionen Schilling von der Regierung gedeckt werden mußte, was der Mithilfe der Nationalbank bedurfte. Im Februar 1932 wurde Kienböck zum Notenbankpräsidenten ernannt; dieses Amt bekleidete er bis zum Einmarsch der deutschen Truppen in Österreich 1938. Binnen kurzem gelang ihm eine Reorganisation der Creditanstalt bei gleichzeitiger Festsetzung einer neuen Parität des Schillings. Die Lausanner Anleihe vom Juli 1932 kam ihm dabei entscheidend zu Hilfe. Neuerlichen Währungsabwertungen in Europa vermochte die neu festgesetzte Parität des Schillings standzuhalten. 1936 drohte der „Phönix-Skandal“ das Vertrauen in die großen Versicherungsinstitute zu erschüttern, jedoch gelang es Kienböck, durch Schaffung eines „Versicherungsfonds“ die Krise zu bereinigen. Die nationalsozialistischen Machthaber pensionierten ihn mit der Hälfte seiner Bezüge. Beim Wiedererstehen der Republik stellte der 72jährige sich neuerdings für öffentliche Aufgaben zur Verfügung. Von 1945 bis 1952 war er Berater der Nationalbank und dann bis zu seinem Tode deren Vizepräsident. In diesen Funktionen nahm er bei der Aufteilung der Marshallplanhilfe entscheidenden Einfluss. Zusätzlich betätigte er sich in der Verwaltung führender Industrieunternehmen. In zahlreichen Vorträgen im In- und Ausland warb er um finanzielle Hilfe für Österreichs Wiederaufbau.