„Kulturpolitik ist ein Fundament unserer Parteipolitik“

Die kulturpolitischen Ambitionen der ÖVP 1945 bis 1986

von Dr. Heimo Konrad

ÖVP-Parteiprogramm 1945

Mit großen kulturpolitischen Ambitionen startet die ÖVP in den politischen Wettbewerb der jungen Zweiten Republik. Ihr im Juni 1945 verabschiedetes neues Parteiprogramm gliedert sich in vier Kapitel. Darunter ein eigenes, das sich mit kulturpolitischen Fragestellungen beschäftigt. Es ist umfangreich und umfasst fünf der insgesamt 15 Leitsätze. Im Leitsatz 6 tritt die Partei für die Freiheit des Kunstschaffens[2] ein.[3]

Vor den Wahlen 1945 skizziert Hans Pernter, einer der Parteigründer und von 1946 bis 1951 Hauptreferent für Kultur der ÖVP-Bundesparteileitung die ÖVP Kulturpolitik: Wenn es heute auch die vordringlichste Aufgabe der Staatspolitik ist, Arbeit und Brot zu schaffen, so wollen wir darüber nicht der hohen Bedeutung der Kulturpolitik, vergessen, die neben der Wirtschaftspolitik auch immer ein wichtiger Bestandteil der Staatspolitik sein muss. Dies gilt doppelt für unser Österreich mit seiner großen Kulturtradition und der schöpferischen Kraft seines Volkes.[4]

Obwohl die ÖVP das Thema Kulturpolitik in der Öffentlichkeit, in Verbindung mit dem Narrativ „Österreich als Kulturnation“, als bedeutend und staatstragend darstellt, beginnt ab etwa 1947 ein früher innerparteilicher Erosionsprozess, der später in einem ersten Bedeutungsverlust dieses Politikfeldes mündet.

In einem internen Bericht kritisiert Pernter, dass in Parteikreisen die Arbeit des Hauptreferates für Kultur nicht immer in dem richtigen Maße gewürdigt wird. Zum Teil beruht dies auf Unkenntnis[5], zum Teil herrscht wohl eine Überschätzung der materiellen Dinge, die nur greifbare und womöglich sofort Nutzen bringende Erfolge verlangen.[6]

ÖVP-Parteiprogramm 1952

1952 passt die ÖVP in Reaktion auf die verlorene Bundespräsidentenwahl 1951 ihr Parteiprogramm an. Kulturpolitik wird zwar weiterhin in einem eigenen Kapitel behandelt, doch fordert die Partei in Anbetracht der schlechten Finanzlage die möglichste Konzentration der vorhandenen Mittel für kulturelle Zwecke auf die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses und der wissenschaftlichen Forschungsarbeit sowie auf den Wiederaufbau und die Besserausstattung der hierfür notwendigen Einrichtungen.[7]

Während Hans Pernter seine Kritik noch in einem innerparteilichen Bericht vorträgt, nutzt Hanns Koren als Leiter des kulturpolitischen Ausschusses den 5. ÖVP-Bundesparteitag 1954 als Bühne für seine Kritik: Demnach ist dieser Ausschuss nicht in der Lage entsprechend zu arbeiten, da ihm als ad hoc zusammengesetztes Beratungsgremium nur Vorlagen zugewiesen werden, die mehr oder weniger zufälliger Natur sind und er darüber hinaus nicht über die notwendigen Unterlagen verfügt. Er fordert die Partei dazu auf, der Kulturpolitik (…) nunmehr nach der erfolgreichen Festigung der wirtschaftlichen Verhältnisse, die die vordringliche Aufgabe der ersten Nachkriegszeit gewesen ist, wieder mehr der Vorrang einzuräumen. Kulturpolitik darf nicht defensiv sein.[8]

Im ÖVP Grundsatzprogramm 1958, in dem die programmatischen Ausrichtungen aufgrund des Staatsvertrages und die Unabhängigkeit 1955 angepasst werden, fehlt ein eigenes Kapitel zur Kulturpolitik. Sie wird im Kapitel Der Mensch braucht Freiheit und bleibende Werte behandelt und definiert: So ist Kulturpolitik jener Bereich der Politik, der über die Besserung äußerer Lebensumstände hinaus dem Menschen auch die Möglichkeit zur inneren Bereicherung und Vervollkommnung geben kann. Die Kulturpolitik hat nicht nur die bleibenden Werte zu pflegen, sondern auch für die volle Entfaltung aller künstlerischen Neigungen und schöpferischen Begabungen unseres Volkes zu sorgen. Das Programm enthält erneut ein Bekenntnis zum Grundsatz der Freiheit auf allen Gebieten der Kunst und Wissenschaft – jedoch unter der Einschränkung, dass die Gemeinschaft das Recht beanspruchen darf, offen sittenzerstörenden Einflüssen vor allem, wenn diesen die heranwachsende Jugend ausgesetzt ist, durch gesetzliche Maßnahmen entgegenzutreten.[9]

Im Klagenfurter Manifest 1965 tritt die ÖVP im Kapitel Gleiche Bildungsmöglichkeiten im Kulturstaat Österreich, für eine aktive Kulturpolitik ein, die sie als eine ihrer vornehmsten Aufgaben bezeichnet. Die Schöpfung der kulturellen Werte selbst steht für sie unter dem Gesetz der Freiheit. Die Geisteskultur soll durch zweckentsprechende Einrichtungen von öffentlicher und privater Seite mit ausreichenden Mitteln gefördert werden.[10]

Nach Jahren eines schleichenden Bedeutungsverlustes erfährt das Thema Kulturpolitik in der Zeit der einzigen ÖVP Alleinregierung auf Bundesebene von 1966 bis 1970 wieder eine Aufwertung. Von 1967 bis 1971 wird die Publikation Aktuelle Kulturpolitik veröffentlicht.

Im Jahre 1969 erscheint eine Publikation zur Kulturpolitik der ÖVP, in der sie darauf hinweist, dass sie schon 1945 die Bedeutung der Kulturpolitik erkannt hat und sie gleich hinter die Staatspolitik reiht. Sie bekennt sich ausdrücklich zum Begriff Kulturstaat, lehnt aber das Prinzip der Staatskultur ab. Die staatliche Kulturpolitik hat die Aufgabe, ein geistiges Klima herzustellen und zu bewahren, das der Kulturentfaltung zugutekommt. Bei der Kunstförderung tritt sie für ein Kulturförderungsgesetz[11] ein. Aktive Kunstpolitik ist für sie Bestandteil der Kulturpolitik. Sie gibt ein Bekenntnis zur Förderung des zeitgenössischen Kunstschaffens ab.[12]

Mit Beginn der Ära von Bruno Kreisky endet 1970 auf Bundesebene die ein Vierteljahrhundert lang andauernde Zuständigkeit der ÖVP für Kunst und Kultur, die nun dem Bundesministerium für Unterricht zugeordnet ist. Dass die ÖVP dem Feld der Kulturpolitik in dieser langen Periode nicht durchgehend eine zentrale Rolle zugemessen hat, überrascht im Rückblick.

Im Salzburger Programm 1972 setzt sich die ÖVP in einem eigenen Kapitel, mit der Freiheit der Kunst auseinander. Kunst versteht sie als schöpferische Interpretation und Gestaltung der Welt und des Weiterlebens. Sie definiert den Begriff Kunstpolitik: Diese hat Altes, das als wertvoll anerkannt wird, zu bewahren und für Neues offen zu sein. Die Bereitschaft der Öffentlichkeit, sich mit Kunst und Kunstschaffenden auseinanderzusetzen, ist durch verstärkte Information über das Bildungssystem und die Massenmedien zu heben. Der Künstler wirkt für die Gesellschaft, die Gesellschaft braucht das Wirken des Künstlers, der für sein Schaffen geistige Freiheit und materielle Sicherheit braucht. Künstlerförderung muss bestrebt sein, materielle Sicherheit zu bieten, ohne geistige Freiheit einzuschränken. Was die Finanzierung insgesamt betrifft, soll diese nicht nur durch die öffentliche Hand erfolgen: Erleichterungen für die private Kunstförderung vermehren die Chancen der Künstler.[13]

Auf Basis des Salzburger Programms erstellt die ÖVP das Kulturbild 1978. Als wichtigstes Kriterium einer sinnvollen Kulturpolitik wird darin ein stetiger Kulturzuwachs genannt. Ziel der Kulturpolitik ist es, mehr Voraussetzungen für mehr Teilnahme von mehr Menschen am Kulturschaffen und Kulturerlebnis zu erreichen. Dabei kommt der Kulturförderung durch die Öffentliche Hand besondere Bedeutung zu. Bei öffentlichen Mitteln sind die Vergabekriterien ständig zu überprüfen. Unumgänglich ist dabei eine Prioritätenliste, die mehr Transparenz schaffen soll.[14]

Der ÖVP Bundesparteitag 1980 steht im Zeichen der Erneuerungsdiskussion. Als Themen für eine breite Diskussion erachtet Parteiobmann Alois Mock die Familie in der Gesellschaft und wie man aus einer guten österreichischen Schule eine bessere Schule macht. Die ÖVP sieht er als Bildungs-, Familien-, Partnerschafts-, Demokratie- und Eigentumspartei und als Partei des Lebens. Der Bereich Kulturpolitik zählt nicht zu den genannten Zukunftsthemen.[15] Das ist insofern von Interesse, da Mock von 1969 bis 1970 Unterrichtsminister war und dadurch auch die Bereiche Kunst und Kultur verantwortete.[16]  Schließlich erhält im Jahre 1985 das 1972 beschlossene Salzburger Programm eine Ergänzung durch das Zukunftsmanifest, das auch kunst- und kulturpolitische Themensetzungen enthält. Mit ihrem Zukunftsmanifest will die ÖVP dem Pessimismus der Ära Kreisky, die das Erreichte irgendwie erhalten will, den Optimismus einer neuen Freiheit und Selbständigkeit gegenüberstellen.[17] Für die ÖVP ist Kunst im engeren Sinn kein Luxus, sondern Lebensnotwendigkeit. Die Politik muss Kultur, Kunst, Literatur, aber auch Sport, Spiel und Festlichkeit aller Art fördern – behutsam, unaufdringlich, mit Respekt vor deren Freiheit und Eigenständigkeit.[18]

Im Jahre 1986 erscheint das Aktionsprogramm Kultur. Die Kulturpolitik soll künftig auf drei Besonderheiten der Österreichischen Kultur aufbauen: auf der regionalen Vielfalt, der reichen Geschichte dieses Landes und den Begabungen seiner Bewohner. Zielsetzung der ÖVP-Politik ist die Durchflutung aller Lebensbereiche mit Kultur. Dabei wird ein weiter Kulturbegriff herangezogen, der alles einbezieht, was den Menschen zu seiner Umwelt in Beziehung setzt. Was die Kunstförderung betrifft, stellt die ÖVP fest: Die Kunstförderungspolitik auf Bundesebene führt immer mehr zu einer Benachteiligung der Länder und die Leistungen der Länder auf dem Gebiet der Kulturpolitik werden im Gesamtvergleich immer höher. Sie fordert dazu auf, neue Wege zu beschreiten. Dringlicher denn je sind ihr neue Impulse und Anreize für die Kunstförderung zu setzen, auch von privater Seite.[19]

Aus heutiger Sicht wirkt das Aktionsprogramm Kultur ein wenig aus der Zeit gefallen, da seine Veröffentlichung ins Jahr der wohl größten politischen Umbrüche seit 1945 fällt: Jörg Haider wird Parteivorsitzender der FPÖ, was zum Ende der kleinen Koalition zwischen SPÖ und FPÖ führt. Die Waldheim-Affäre erregt internationales Aufsehen. Die Grünen sind erstmals im Nationalrat vertreten. Die Nationalratswahl 1986 ist der Ausgangspunkt der Erosion der bislang bestehenden Machtblöcke der Großparteien ÖVP und SPÖ.[20] All dies hatte kulturpolitische Auswirkungen, die bis heute nachwirken.

Niederösterreich: 1986 Übernahme der Kulturkompetenz

Ebenfalls 1986 kommt es in Österreichs größtem Bundesland zu einem kulturpolitischen Umbruch. In Niederösterreich gibt die SPÖ nach mehr als vier Jahrzehnten ihre Ressortverantwortung für den Kulturbereich im Tausch für mehr Gemeindekompetenzen an die ÖVP ab. Ex post kritisierte Fred Sinowatz (SPÖ) die Entscheidung seiner niederösterreichischen Parteikollegen als politischen Fehler. Viele in der SPÖ Niederösterreich hätten damals die Bedeutung einer modernen Kulturpolitik für die Gesamtpolitik nicht richtig eingeschätzt. Die ÖVP sieht er als klare Gewinnerin und im Wechsel den Beginn einer Kulturpolitik, die in erster Linie der Reputation der ÖVP in Künstlerkreisen diente. Darüber hinaus vermutete er, dass mit der Aufgabe der kulturellen Kompetenz eine entscheidende landespolitische Schwächung Hand in Hand ging.[21]Dass die Entscheidung zur Abgabe der Kulturkompetenz der SPÖ zumindest nicht genutzt hat, ist evident. Ausgehend von den Landtagswahlen 1983 bis zu jenen 2013 schmolz der Stimmenanteil der SPÖ von 41,35 Prozent sukzessive bis auf 21,57 Prozent. Sie verlor in diesem Zeitraum fast die Hälfte ihrer Stimmen. Demgegenüber nutzte die Niederösterreichische ÖVP das Potential ihres neuen Zuständigkeitsbereichs umfangreich und erkannte dessen politisches Gewicht.[22] Damit beschritt die niederösterreichische ÖVP ab 1986 kulturpolitisch einen gänzlich anderen Weg als die Bundes-ÖVP.

Doch dies wäre Thema einer weiteren Erörterung.


[1] Pernter Hans, Arbeitsbericht des Hauptreferates für Kultur, Archiv des KvVI, Bestand Leopold Figl, Korrespondenz 1946-1949, S. 1.

[2] Diese Forderung wird erst 1982 durch Art. 17a StGG verfassungsrechtlich verankert. BGBl. Nr. 262/1982.

[3] Berchtold Klaus (Hg.), Österreichische Parteiprogramme 1868-1966, 1967, S. 377.

[4] Neues Österreich, 24.5.1945, S. 4.

[5] Ähnliches bemängelt rund drei Jahrzehnte später der politische Mitbewerber, Fred Sinowatz (SPÖ), in seiner Funktion als für Kunst und Kultur zuständiger Unterrichtsminister: Liebe Genossinnen und Genossen, ich rede hier sehr gern über Kulturpolitik, wie ich ja überhaupt gern die Gelegenheit wahrnehme, vor Sozialisten das Thema Kulturpolitik anzuschlagen. Deren Bedeutung wird leider nicht immer in unserer Partei erkannt. So versuche ich es schon seit langem, auf jede mögliche Weise ein gewisses Interesse für Kulturpolitik zu schaffen und den Genossen klarzumachen, dass Kulturpolitik sehr wohl zur Politik gehört, ja sogar einen wesentlichen Teil unserer Politik ausmacht – oder ausmachen sollte. Vgl. Dr.-Karl-Renner-Institut (Hg.), Sinowatz Fred, Kulturpolitik für alle, 1976, S. 3. Dieses Beispiel ist besonders bemerkenswert, da sich die SPÖ noch im 21. Jahrhundert mit den kulturpolitischen Leistungen von Bruno Kreisky, Bundeskanzler von 1970 bis 1983, und Fred Sinowatz, Bundeskanzler von 1983 bis 1986, rühmt.

[6] Pernter Hans, Arbeitsbericht des Hauptreferates für Kultur, Archiv des KvVI, Bestand Leopold Figl, Korrespondenz 1946-1949, S. 1.

[7] Berchtold Klaus (Hg.), Österreichische Parteiprogramme 1868-1966, 1967, S. 381f.

[8] Archiv des KvVI , Sten. Prot. des 5. Bundesparteitages der Österreichischen Volkspartei, 16.9.1954, 274f.

[9] Berchtold Klaus (Hg.), Österreichische Parteiprogramme 1868-1966, 1967, S. 386ff.

[10] Ebenda, S. 401.

[11] Auf Landeseben tritt das erste Kulturförderungsgesetz 1974 in Vorarlberg in Kraft. LGBl Vorarlberg Nr. 4/1974. Der Bund folgt erst 1988 mit seinem Kunstförderungsgesetz. BGBl. Nr. 146/1988.

[12] Huber Othmar, Kulturpolitik der ÖVP, 1969, S. 2f, 35 und VI.

[13] Kriechbaumer Robert, Parteiprogramme im Widerstreit der Interessen, 1990, S. 772f.

[14] ÖVP, Neue Wege für Österreich – Kulturbild – Kultur und Kulturarbeit aus der Sicht der Österreichischen Volkspartei, Bd. 8, 1978, S. 2 u. 19.

[15] Archiv des KvVI , Sten. Prot. des 22. Ordentlichen Bundesparteitages der Österreichischen Volkspartei, 29.2.1980, S. 32ff.

[16] Konrad Heimo, Kulturpolitik. Eine interdisziplinäre Einführung, 2011, S. 80.

[17] Archiv des KvVI , Sten. Prot. des 24. Ordentlichen Bundesparteitages der Österreichischen Volkspartei, 13.11.1983, S. 114.

[18] Kriechbaumer Robert, Parteiprogramme im Widerstreit der Interessen, 1990, S. 786 u. 805.

[19] ÖVP, Aktionsprogramm Kultur der Österreichischen Volkspartei, 1986, o. S.

[20] Konrad Heimo, Kulturpolitik. Eine interdisziplinäre Einführung, 2011, S. 90.

[21] Sinowatz Fred, Franz Slawik – Ein verhinderter Kulturpolitiker, in: Toth Wilhelm (Hg.), Reformer, Rastlose, Rebellen – Intellektuelle und die Politik, 2004, S. 169f.

[22] Ausführlich dazu: Konrad Heimo, Kulturpolitik der Bundesländer seit 1945: Niederösterreich. Dokumentation und Analyse, erscheint 2023.