Zum Digitalisierungsprojekt ÖVP-Bundesparteitage.
Zwischenstand 1947/1949 und Ausblick

Univ.-Prof. Dr. Wolfgang C. Müller
Institut für Staatswissenschaft – Vienna Center for Electoral Research (VieCER)
Fakultät für Sozialwissenschaften, Universität Wien

Das Karl-von-Vogelsang Institut macht mit der elektronischen Veröffentlichung der Protokolle der Parteitage 1947 und 1949 zwei interessante Dokumente aus der Frühgeschichte der Österreichischen Volkspartei (ÖVP) breit zugänglich. Im Hinblick auf die Erschließung von Quellen für die Forschung und die interessierte Öffentlichkeit stehen hier vor allem die Digitalisierung der Quellen (mit Optical Character Recognition, OCR) und ihre leichte Verfügbarkeit im Vordergrund, denn im Unterschied zu den Protokollen späterer Parteitage sind die Protokolle 1947 und 1949 gedruckt und in öffentlichen Bibliotheken zu finden.

Beide Parteitage fanden in Wien, im Konzerthaus statt. Der Parteitag 1947 (18. – 21. April) war mit vier Tagen außergewöhnlich lang, der von 1949 (20. – 21. Mai) umfasste zwei Tage. In beiden Fällen handelte es sich um Großveranstaltungen. Für den Parteitag 1947 erwähnt das Protokoll über 1000 Delegiert, zum Parteitag 1949 gab es 322 stimmberechtigte und 167 beratende Delegierte sowie 1000 Gäste. Der Parteitag 1947 war eingerahmt von zahlreichen anderen Veranstaltungen von Spezialorganisationen der Partei, welche die seltene Gelegenheit einer Versammlung von Teilnehmern aus ganz Österreich – über die Zonengrenzen der alliierten Besatzung hinweg – nützten.

Im größeren innenpolitischen Kontext stehen beide Parteitage zwischen dem Triumph der ÖVP bei der Nationalratswahl 1945 (absolute Mandatsmehrheit), bei der diese Partei ein Monopol auf die Vertretung nicht-sozialistischer Ideen hatte, und der „kritischen Wahl” von 1949, bei der eine „vierte Partei” – der Verband der Unabhängigen (VdU) – sich als Konkurrent im bürgerlichen Lager abzeichnete. Beim Parteitag 1947 war die Allparteienregierung ÖVP-SPÖ-KPÖ noch aufrecht, beim Parteitag 1949 war – nach dem Ausscheiden der KPÖ aus der Regierung – die klassische Variante der Großen Koalition ÖVP-SPÖ im Amt.

In der Parteigeschichte der ÖVP handelt es sich um den ersten und den zweiten Parteitag. Die ÖVP war im April 1945 in Wien gegründet und mit einer gesamtösterreichischen Tagung der politischen Führungskräfte im September 1945 als bundesweite Partei konsolidiert worden. Der Parteitag 1947 wurde auf Basis des provisorischen Statuts organisiert, mit dem die ÖVP bis 1948 arbeitete (Müller 1992). Dieser Parteitag hätte schon im März 1946 stattfinden sollen, musste aber auf Grund von „technischen Schwierigkeiten” auf April 1947 verschoben werden (Reichhold 1975: S. 171). Diese Schwierigkeiten sind natürlich in der allgemeinen Misere der ersten Nachkriegsjahre zu finden, die sich in den Berichten, die dem Parteitag gegeben wurden, deutlich widerspiegeln. 1946 ist als das Hungerjahr in die Nachkriegsgeschichte eingegangen, in dem die Versorgung im Mai vom ohnedies bescheidenen Kriegsniveau von 1300–1500 Kalorien pro Tag und Einwohner auf 950 Kalorien absank, die Säuglingssterblichkeit 160 von 1000 Geburten betrug und im dem es Stromabschaltungen von 7.00 bis 17.00 gab. 1947 war die Nahrungsmittelversorgung zwar etwas verbessert aber immer noch unzureichend (1550 Kalorien); im gewerblich-industriellen Sektor waren gerade erst 40% der Vorkriegskapazität erreicht (1947, S. 37). Dem gegenüber fand der zweite Parteitag in einer wesentlich verbesserten Situation statt, Parteiobmann Bundeskanzler Leopold Figl sprach zu Recht vom „gewaltigen Fortschritt” der gemacht worden war. Die Bewirtschaftung vieler Güter war zu einem Ende gekommen, die Industrieproduktion lag in vielen Bereichen bereits über dem Niveau von 1937 und die Rationierung von Lebensmitteln war auf die wichtigsten Grundnahrungsmittel beschränkt worden.

Bei beiden Parteitagen gleichermaßen unbefriedigend war die internationale Situation Österreichs, als vierfach besetztes Land, das unter der Kontrolle des Alliierten Rats stand (Rauchensteiner 2005). Die Alliierten hatten sich (außerhalb der österreichischen Rechtsordnung) ein Einspruchsrecht gegen österreichische Gesetze eingeräumt. Wenn aber Gesetze gegen den Willen der Sowjetunion zustande kamen (was ab dem Zweiten Kontrollabkommen möglich war), konnten sie in deren Besatzungszone nicht umgesetzt werden – was insbesondere die Verstaatlichungsmaßnahmen betraf. Außerdem musste Österreich die Kosten der Besatzung tragen, was eine enorme budgetäre Belastung darstellte. Das Verlangen nach einem Staatsvertrag, der das Ende der Besatzungsmächte nach sich ziehen würde, ist daher – auch im Zusammenhang mit praktisch zeitgleich mit den Parteitagen stattfindenden Verhandlungen zwischen den Alliierten in Moskau (1947) und London (1949) – ein gemeinsames Thema der beiden Parteitage. Die drei zentralen Bedingungen der ÖVP für einen solchen Staatsvertrag wurden dabei wiederholt klar formuliert: Erstens Wiedererrichtung Österreichs in den Grenzen von 1937 (d.h. keine Gebietsverluste), zweitens uneingeschränkte Souveränität (d.h. keine Einschränkung der Freiheit) und drittens keine verbleibenden ausländischen Einflussbereiche in der österreichischen Wirtschaft (d.h. keine Betriebe in sowjetischem Besitz auf österreichischem Territorium).

Beide Parteitage sind als „Rechenschaftsbericht” über die Politik der vergangenen Jahre und „Programm” für die nähere Zukunft (Figl, 1947, S. 13) angelegt. Daher spiegeln sich in den Protokollen die innenpolitischen Auseinandersetzungen dieser Jahre wider. Zu den Sachfragen, die auf der Agenda der Regierung und Parteien standen, gehören neben den zahlreichen Problemen der Wiederingangsetzung und Neustrukturierung (durch Verstaatlichungen) der Wirtschaft, der Modernisierung der Landwirtschaft und erster sozialpolitischer Maßnahmen die Heimkehrerfrage (Rückkehr und Wiedereingliederung der Kriegsgefangenen in die Gesellschaft) und der Umgang mit den ehemaligen Nationalsozialisten.

Parteitage sind auch eine Gelegenheit zur ideologischen Selbstdarstellung einer Partei. Die ÖVP nutze beide Parteitage, vor allem aber den von 1947, dafür, sich als neue Partei (d.h. nicht als Nachfolgepartei der Christlich-sozialen Partei), als Österreich-Partei (d.h. als jedem Pangermanismus abholde patriotische Kraft), als eine der Demokratie unbedingt verpflichtete Partei und als Partei des Solidarismus („Freiheit in Verantwortung für das Gemeinwesen” mit Verweis auf das Urchristentum) darzustellen – Werte, die schon das erste Parteiprogramm („Die programmatischen Leitsätze der Österreichischen Volkspartei”, 1945) geprägt hatten. Wer gesellschaftspolitisch konservative Aussagen sucht, wird fündig z.B. im Referat der Obfrau der Frauenbewegung der ÖVP, Nadine Paunovic (1947, S. 49–53).

Die Parteitage erlauben auch Einblicke in die Positionierung und Strategie der ÖVP gegenüber den anderen Parteien. Wenig überraschend reklamierte die ÖVP die politische Mitte für sich. Die KPÖ wurde als unverantwortliche Regierungspartei (1947) und als Agent Moskaus verstanden (das Akronym KPÖ wurde z.B. als „Keine Partei Österreichs” übersetzt). Im Hinblick auf die SPÖ betonte die ÖVP ihre Bereitschaft zur Zusammenarbeit, hinterfragte aber das SPÖ-Bekenntnis zur Demokratie und attestierte eine Tendenz zur „Volksfront” oder „Linksfront” mit der KPÖ. Damit waren Grundlinien der Wahlkämpfe bis in die 1960er Jahre vorgezeichnet (Hölzl 1974). Vor der „vierten Partei” wieder wurde als Abspaltung von und damit Schwächung der „nicht-marxistischen Front” gewarnt. Während 1947 die Abgrenzung vom Nationalsozialismus großen Stellenwert hatte, waren 1949, als es darum ging ehemalige Nationalsozialisten auch als Wählergruppe stärker anzusprechen, entsprechende Hinweise stark zurückgefahren.

Beide Parteitage stehen in der Tradition der Parteitage bürgerlicher Parteien mit, verglichen etwa mit sozialdemokratischen Parteien, wenig Berichterstattung über Organisations- und Finanzfragen und stattdessen Konzentration auf die Herausforderungen der Politik und die Positionierung der Partei in Sachfragen und in den politischen Auseinandersetzungen mit anderen Parteien. Beide Parteitage – jedenfalls was die hier protokollierten Ablaufe der Plenarveranstaltung angeht – dienten in allererster Linie der Darstellung des Ergebnisses der innerparteilichen Willensbildung und nicht der Präsentation und Diskussion kontroverser Standpunkte. Beide Protokolle vermitteln ein Bild großer Geschlossenheit. Nur ab und zu blitzen unterschiedliche Positionen und Differenzen auf. Wahrscheinlich wurden solche Divergenzen in den Ausschüssen des Parteitags bearbeitet. Diese fanden neben dem Plenum statt. Was dort stattfand, ist im vorliegenden Protokoll nur in der Berichterstattung aus den Ausschüssen und in den relativ detailliert formulierten Leitanträgen der Ausschüsse dokumentiert. Diese Leitanträge wurden dann vom Parteitag einstimmig beschlossen. Vielleicht am deutlichsten sind unterschiedliche Auffassungen im Hinblick auf Organisationsfragen dokumentiert, vor allem im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Partei und Bünden, welches die ÖVP unter dem Schlagwort „Bündeproblem” über Jahrzehnte beschäftigen sollte (Müller und Steininger 1994).

Zitierte Literatur:

  • Hölzl, Norbert (1974). Propagandaschlachten. Die österreichischen Wahlkämpfe 1945–1971. Wien: Verlag für Geschichte und Politik.
  • Müller, Wolfgang C. (1992). Austria (1945–1990), in Richard S. Katz und Peter Mair (Hg.), Party Organizations. A Data Handbook on Party Organizations in Western Democracies, 1960–1990. London: Sage, pp. 21–120.
  • Müller, Wolfgang C. und Barbara Steininger (1994). Party Organization and Party Competitiveness: the Case of the Austrian People’s Party, 1945–1992. European Journal of Political Research, Vol. 26, No. 1, pp. 1–29.
  • Rauchensteiner, Manfried (2005). Stalinplatz 4. Österreich unter alliierter Besatzung. Wien: Edition Steinbauer.
  • Reichhold, Ludwig (1975). Geschichte der ÖVP. Graz: Styria.