Zu den Quellen:

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Quelle 2

Kommentar:

Univ.-Doz. Dr. Andreas Weigl, Wiener Stadt- und Landesarchiv sowie

Mitglied des Wissenschaftlichen Beirates des Karl von Vogelsang-Instituts

Kulturkampf um die Schule

Zu den Dauerbrennern der politischen Kämpfe zwischen „links“ und „rechts“ gehört in Österreich seit den liberalen Reformen der späten 1860er Jahre die Schulpolitik. Die Bestimmungen des liberalen Reichsvolksschulgesetzes von 1869 waren ab den 1880er Jahren im Sinn der Bestrebungen der Katholischen Kirche nach einer „Rekatholisierung der Schule“ durchlöchert worden, sodass die bei Gründung der Republik gültige „Definitive Schulunterrichtsordnung von 1905“ der Kirche einen nach wie vor beträchtlichen Einfluss auf das Schulwesen einräumte. Es verwundert daher nicht weiter, dass sich nach dem Zusammenbruch der Habsburgermonarchie und der Gründung der Republik ab dem Frühjahr 1919 die Schulpolitik gemeinsam mit der Ehegesetzgebung zu den großen Kampffeldern zwischen Christlichsozialer Partei und Sozialdemokratischer Arbeiterpartei entwickelte. Die beiden hier ausgewählten Verhandlungsschriften des „christlich-sozialen Klubs der Wiener Stadtschulräte“ aus dem Oktober 1922 stammen aus einer besonders heißen Phase des „Kulturkampfs“ in der Ersten Republik und sie spiegeln das aufgeregte schulpolitische Klima jener Jahre besonders deutlich wider.

Das Feindbild des christlich-sozialen Klubs schlechthin war der sozialdemokratische Schulpolitiker Otto Glöckel. Der 1874 als Sohn des Unterlehrers Friedrich Glöckel geborene, unter Karl Lueger aus ideologischen Gründen aus dem Schuldienst entlassene Pädagoge, rückte am 15.3.1919 als Unterstaatssekretär für Unterricht in der Regierung Renner-Fink zum mächtigsten Bildungspolitiker der jungen Republik auf. Und er machte mit einer wahren Flut von Erlässen rasch klar, dass im Schulwesen kein Stein auf dem anderen bleiben sollte. Die Bestrebungen Glöckels zielten auf ein Gesamtschulmodell, bestehend aus einer Grundschule und einer allgemeinen Mittelschule für die 11-14-Jährigen, verknüpft mit einer universitären Lehrerausbildung. Inhaltlich sah der neue Glöckelsche Lehrplan für Volksschulen, der am 8.6.1920 provisorisch eingeführt wurde, Arbeitsunterricht, d.h. Selbsttätigkeit des Schülers, Bodenständigkeit und keinen fixen Stundenplan (Gesamtunterricht) vor. Nach dem de facto Ende der großen Koalition bereits im Sommer 1920 endete jedoch seine Tätigkeit als Bundespolitiker. Glöckel ging nach den Wahlen im Oktober 1920 in die Kommunalpolitik und wurde ab 1922 mächtiger Präsident des nach der Trennung von Wien und Niederösterreich neu geschaffenen Wiener Stadtschulrates.

Die Notwendigkeit zu organisatorischen und inhaltlichen Reformen im Bildungswesen wurde nach 1918 auch von christlichsozialen und deutschnationalen Schulreformern gesehen. Die Vermittlung der Liebe zum Kaiserhaus war nun obsolet, militärische Übungen angesichts der Millionen Toten des Weltkriegs mehr als fragwürdig. Reformer aller politischen Lager waren sich einig: praxisnahe Kenntnisse („Heimatkunde“) sollten vermittelt, die Durchlässigkeit des Schulsystems gefördert werden. Doch die von Glöckel angestrebte völlige Säkularisierung des Schulwesens lehnten die Christlichsozialen strikt ab. Den bürgerlichen Nachfolgern Glöckels in der Bundespolitik ging sein Weg der Schulreform daher viel zu weit. Angesichts dieser Ausgangslage verlagerte sich der Kulturkampf in der Bildungspolitik auf Landesebene: nach Wien.

Schon im Wahlkampf im Februar 1919 hatte es in einem Hirtenbrief geheißen: „Eine Schule ohne Gott muss jede Idee von Gewissen und Pflicht zerstören, weil diese beiden nur in Gott ihre Begründung haben“. Der Erlass von Glöckel vom 10. April 1919 „betreffend die Teilnahme der Schuljugend an den religiösen Übungen“, der die verpflichtende Teilnahme abschaffte, wurde zum Stein des Anstoßes, der für den rechtskatholischen Flügel der Christlich-Sozialen und die Kirche vorerst jede weitere Diskussion über die Schulreform erübrigte. Für Glöckel hatte im täglichen Unterricht das Schulgebet keinen Platz. Auch dass Schüler geschlossen zum Schulgottesdienst und zu Fronleichnamsprozessionen geführt wurden und die Note im Fach „Religion“ vom Besuch des Sonntagsgottesdienstes abhängig war, fand er mit einem republikanisch-demokratischen Schulsystem unvereinbar. Für die Kirche war ein solch säkular gedachtes Verständnis von Schule nicht nur unerhört und unerträglich, es drohte langfristig die gesellschaftliche Machtposition entscheidend zu schwächen. Der „Bolschewisierung“ der Kinder und Jugendlichen schien Tür und Tor geöffnet.

Die vorliegenden Sitzungsprotokolle des Klubs der christlich-sozialen Stadtschulräte kreisen genau um jene zentrale Frage der Säkularisierung des Schulunterrichts. Die Verwendung christlicher Symbole oder Bilder in den Schulräumen, das Schulgebet stand zur Debatte. In den von Stadtrat Rummelhardt geleiteten Sitzungen rekurrierten die Stadtschulräte daher immer wieder auf die ja auch von Glöckel als Kurzzeit-„Unterrichtsminister“ mangels Mehrheit in der Koalition nicht grundsätzlich veränderten Schulgesetze aus der Monarchie, deren Einhaltung ab Oktober 1920 Unterrichtsminister aus dem bürgerlichen Lager überwachten. Freilich ließ der junge Föderalismus Glöckel in seinen Reformbestrebungen im „Roten Wien“ einen Spielraum, den er zu nutzen wusste. Dass dabei von beiden Seiten nicht immer mit der „feinen Klinge“ gefochten wurde, macht etwa der geschilderte Fall des „linken“ Direktors in der Schule in der Pyrkergasse in Wien-Döbling und der erbosten „rechten“ Elternschaft deutlich.

Die Sitzungen der Christlich-sozialen Stadtschulräte leitete mit Karl Rummelhardt ein durchaus erfahrener Pädagoge und Politiker. Rummelhardt, nach dem in Wien eine Gasse benannt ist, kannte als Direktor der technisch-gewerblichen Fortbildungsschule in Ottakring und langjähriges Mitglied in verschiedenen Wiener Schulbehörden das Wiener Schulwesen aus der Praxis. Ab 1914 war Rummelhardt Mitglied des Gemeinderates der Stadt Wien, von 1919 bis 1930 nichtamtsführender Stadtrat. Schwerpunkte seiner politischen Tätigkeit bildeten unter anderem das gewerblichen Fortbildungsschulwesens und die Jugenderziehung.

Zum Zeitpunkt der Gründung der Republik war die überwiegende Mehrheit des Lehrpersonals dem bürgerlichen Lager zuzurechnen. Dem begegnete Glöckel mit der Gründung eines Pädagogischen Instituts für die Aus- und Fortbildung des Lehrpersonals, welches auf die neue Schule vorbereitet wurde. Dadurch wurde die katholische Lehrerausbildung in ihrem Monopolcharakter ausgehebelt. Der in den Sitzungsprotokollen erwähnte Schuldirektor stammte offensichtlich aus dem „roten Lager“, eine Tatsache, die unter den Bürgermeistern Lueger und Weißkirchner undenkbar gewesen wäre. Von der von Glöckel propagierten „Demokratisierung“ des Schulwesens profitierte jedoch – wie der gegenständliche Fall zeigt – auch das andere Lager. Elterndemonstrationen und der Versuch, eine gemeinsame Frontlinie von christlicher Erziehungsgemeinschaft und bürgerlichen Elternvertretern zu bilden, macht deutlich, dass sich bei allen gegenseitigen Vorwürfen und Blockierungen im Schulwesen etwas bewegte. Was die gesamte Erste Republik freilich überschattete, blieb die Frage: Wie hält es die neue Schule mit der Religion?