100 Jahre Burgenland bei Österreich

  • Entwurf der politischen Gliederung Deutsch-Westungarns (des Burgenlands) 1919 >> Zur Quelle
  • Protokoll der zweiten Sitzung der Verwaltungsstelle für den Anschluss Deutsch-Westungarns 1919 >>Zur Quelle
  • Stellungnahme der Christlichsozialen Partei zur „Ödenburger-Frage“ 1921 >>Zur Quelle

Kommentar Univ.-Prof. Dr. Anita Ziegerhofer

Universität Graz/Institut für Rechtswissenschaftliche Grundlagen, Vizepräsidentin des Karl von Vogelsang-Instituts

100 Jahre österreichisches Bundesland Burgenland[1]

Die Pariser Friedensverhandlungen, die mit 18. Jänner 1919 in Paris eröffnet wurden, endeten mit der Schaffung einer „imperialistischen Friedensordnung Mitteleuropas“.[2] Für die einstige Habsburgermonarchie bedeutete der Vertrag von St. Germain u.a. die Reduktion auf einen „Rest“: von 676.614 km2 waren knapp 84.000 km2 übriggeblieben mit ca. 6, 5 Millionen Bewohner von einst über 51 Millionen. Dieser territoriale Verlust prägte das kollektive Bewusstsein der Österreicherinnen und Österreicher. Da tröstete auch die Tatsache nicht, dass Österreich das einzige Land unter den Besiegten gewesen war, dem ein territorialer „Gewinn“ zuerkannt wurde: Westungarn/Burgenland.

In Paris war es der österreichischen Friedensdelegation unter der Leitung von Karl Renner gelungen, den Obersten Rat davon zu überzeugen, die geplante Grenze von 1867 zwischen Österreich und Ungarn zu verändern. Erst im zweiten Vertragsentwurf (20. Juli 1919), den die Alliierten der Friedensdelegation übermittelte, wurde diesem Wunsch Rechnung getragen und die Grenze auf eine Linie zwischen Pressburg/Pozsony/Bratislava und Radkersburg/Radgona nach Osten verschoben. So konnten 350.000 überwiegend deutschsprachige Einwohnerinnen und Einwohner Westungarns Österreich zugeteilt werden.[3] Dieses Eingeständnis der Siegermächte war wohl der Tatsache geschuldet, dass durch die (kurzzeitige) Errichtung einer Räterepublik in Ungarn durch Béla Kun den Siegermächten ein Übergreifen der Russischen Revolution nach Mitteleuropa als realistisch vor Augen geführt wurde. Staatskanzler Karl Renner war es wichtig, gegenüber Ungarn zu betonen, dass der Anschluss Westungarns von den Alliierten entschieden wurde und nicht durch eine österreichische Expansionspolitik zustanden gekommen war.[4] Bereits in ihrer zweiten Sitzung diskutierte die eigens dafür eingerichtete „Verwaltungsstelle für den Anschluss Deutsch-Westungarns“ am 4. September 1919 über die gesetzlichen Richtlinien des Anschlusses, die Übernahme des Gebietes in die deutschösterreichische Verwaltung und die Überleitung Deutsch-Westungarns in die deutschösterreichische Gesetzgebung.[5] In dieser Sitzung wurden auch Überlegungen angestellt, dieses Gebiet entweder als selbstständiges Land zu verwalten oder Teile auf Niederösterreich und die Steiermark aufzuteilen. Darüber wollte man jedoch vorerst keine Entscheidung fällen, hingegen war man übereingekommen, das Gebiet nach Inbesitznahme als Ganzes verwalten zu wollen.[6] Am 10. September 1919 erfolgte die Unterzeichnung des Vertrages von St. Germain und am 16. Juli 1920 trat er in Kraft.

Knapp eine Woche nach der Unterzeichnung des Vertrages von St. Germain, am 16. September 1919, erhielt der ungarische Außenminister die Nachricht von der Entscheidung über die Bestimmungen des westungarischen Gebiets – ab diesem Zeitpunkt erfolgten immer heftiger werdende Übergriffe ungarischer Truppen auf die deutschösterreichische Bevölkerung Westungarns. Ungarn weigerte sich beharrlich, die Grenzbestimmungen im Vertrag von St. Germain anzuerkennen und bestand auf die Gültigkeit seiner staatlichen Souveränität in Westungarn bis zum Abschluss seines Friedensvertrages.[7] Die Meinung der Alliierten, in der Westungarn-Frage gegenüber Ungarn hart zu bleiben, änderte sich im Laufe der Zeit. Der Vorschlag Ungarns, Ende Jänner 1921 in Westungarn eine Volksabstimmung durchführen zu wollen, wurde von Staatskanzler Karl Renner abgelehnt. Diesen Vorschlag hatte man Österreich zu einem Zeitpunkt übermittelt, als die ungarische Friedensdelegation unter der Leitung von Graf Albert Appony bereits in Paris verhandelte. Sie war am 7. Jänner 1920 in Paris eingetroffen und konnte ihre territorialen Wünsche sowie die Forderungen nach Plebisziten in den von Ungarn abzutretenden Gebieten im Sinne des Selbstbestimmungsrechts der Völker allerdings nicht durchsetzen. Schließlich erfolgte am 4. Juni 1920 die Unterzeichnung des Vertrages von Trianon, wobei nicht prominente (wie bei den anderen Vororteverträgen), sondern „zwei völlig unbedeutende Regierungsmitglieder“[8] (Murber) diesen signierten. Durch diesen Akt wurde die Ablehnung des Friedensvertrages durch Ungarn augenscheinlich. Ungarn hatte mehr als ein Drittel seines früheren Staatsgebietes verloren, die Bevölkerung war um mehr als die Hälfte verkleinert![9] Hinsichtlich der Grenze wurde bestimmt, Deutsch-Westungarn an Österreich abzutreten. Die Übergabe war mit Ende August 1921 vorgesehen, davor fanden direkte Verhandlungen zwischen beiden Staaten statt, die allerdings ergebnislos geblieben waren. Ungarn beharrte auf Ödenburg, das als Hauptstadt und somit Wirtschafts- und Verkehrszentrum für Westungarn von großer Bedeutung war. Als aber die österreichische Gendarmerie Ende August ins zukünftige Burgenland einrücken wollte, eskalierte die Situation. Zwar hatten die regulären ungarischen Truppen das Gebiet verlassen, doch leisteten nun ungarische Freischärler (mit stillschweigendem Einverständnis der Regierung) erbitterten Widerstand.[10] Nach schweren Gefechten entschied die Bundesregierung am 10. September 1921 den Rückzug der österreichischen Truppen hinter die alte Grenze – das Burgenland war wieder in ungarischen Händen. Die österreichische Gendarmerie, die Zollwache und das Bundesheer hatten 13 Tote und 45 Verwundete zu beklagen. [11] 

Die Alliierten stellten Ungarn kein Ultimatum, sondern forderten Österreich dazu auf, eine kluge Politik zu betreiben.[12] Schließlich trat der italienische Außenminister Pietro Tomasi Marchese della Torretta als Vermittler auf. Zuvor hatte er mit dem ungarischen Außenminister Miklos Bánffy Gespräche geführt und legte den Vorschlag vor, im umstrittenen Gebiet Ödenburg und Umgebung ein Plebiszit durchführen zu wollen. Bundeskanzler Johannes Schober nahm den Vorschlag von Torretta zähneknirschend an. Man musste eingestehen, dass Österreich militärisch zu schwach war und dass dieser Vorschlag aus diplomatischer Sicht der beste war.[13] Im September 1921 gab die Christlichsoziale Partei eine Stellungnahme hinsichtlich der „Ödenburg-Frage“ ab. Daraus wird die Verärgerung über die Nichtbeachtung des von Woodrow Wilson (zuvor von Lenin) geforderten Selbstbestimmungsrecht ersichtlich: „Das Selbstbestimmungsrecht der Völker ist überholt; an seine Stelle trat die brutalste Gewalt.[14]  Auch dem Plan einer Volksabstimmung konnten die Christlichsozialen nichts abgewinnen, man vertrat vielmehr den Standpunkt: (…) daß Volksabstimmungen im Orient (sic!) alles sind, nur kein Selbstbestimmungsrecht.“ [15] Im Gegensatz zur Sozialdemokratischen Partei, die für eine Volksabstimmung eintrat, waren die Christlichsozialen davon überzeugt, sich „nur eine große Blamage“ zu holen. Sollte es zu Verhandlungen kommen, müsste man die Ungarn davon überzeugen, dass mit dem Verbleib Ödenburgs und seines Umlandes bei Ungarn beide Teile wirtschaftliche Vorteile erhielten, so die Strategie der Christlichsozialen. Deshalb schlugen sie vor, Ödenburg und Umgebung gegen folgende Gebiete einzutauschen 1.) 3 kleine, rein deutsche Dörfer an der Südspitze des neuen Burgenlandes; 2.) St. Gotthard und mehrere ansehnliche deutsche gemeinden (sic!) nördlich der Raab. 3.) Die Stadt Güns mit der Verbindung auf Rechnitz. Dabei fielen allerdings auch 4 magyarische Dörfer zu uns; doch sowohl Rechnitz wie auch Güns brauchen die Strassenverbindungen untereinander. Überdies könnte über dieses ca. 15 km lange Gebiet durch eine Bahn das nördliche und das südliche Burgenland leicht verbunden werden.“[16]

Die entsprechenden „Ausgleichs“ – Verhandlungen zwischen Österreich, Ungarn und Italien begannen am 11. Oktober und bereits nach zwei Tagen, am 13. Oktober 1921, unterzeichneten die Verhandlungspartner das „Venediger Protokoll“. Darin fand jedoch der Tauschvorschlag der Christlichsozialen keine Berücksichtigung, man hatte sich aber auf einen Kompromiss geeinigt: Die ungarische Regierung akzeptierte die Übergabe des Burgenlands an Österreich. Wien willigte im Gegenzug ein, dass in Ödenburg sowie den acht Umlandgemeinden eine Volksabstimmung durchgeführt werden soll. Beide Seiten verpflichteten sich, die Ergebnisse anerkennen zu wollen. Eine weitere Bestimmung im Venediger Protokoll war der Abzug der Freischärler aus dem umstrittenen Gebiet. Dies stellte vorerst ein Problem dar, löste sich aber von selbst: Am 22. Oktober 1921 hatte König Karl IV. (der ehemaligen Kaiser Karl I.) einen zweiten Restaurationsversuch unternommen, weshalb die Freischärler (sowohl Monarchiebefürworter wie auch -gegner) nach Budapest zogen. Der Versuch misslang, Karl wurde ins Exil verbannt, die Freischärler räumten bis 16. November das besetzte Gebiet. Am 20. November begann der Einmarsch österreichischer Truppen und am 6. Dezember 1921 war die Übergabe des Gebietes an Österreich abgeschlossen. Nun konnte man sich auf die für den Zeitraum 14. bis 16. Dezember 1921 anberaumte Volksabstimmung vorbereiten.[17] Die ungarischen Behörden begannen eine „schrankenlose Propaganda zugunsten Ungarns“ zu betreiben.[18] Österreichs Kritik am Zustand der Abstimmungslisten, die die ungarischen Behörden aushändigten, fanden kein Gehör, weshalb Bundeskanzler Schober – mit Zustimmung des österreichischen Nationalrats – die Teilnahme an der Volksabstimmung verweigerte und mitteilte, die Ergebnisse der Volksabstimmung nicht anerkennen zu wollen. Schließlich stimmten 72,8 Prozent der Stimmberechtigten in Ödenburg für einen Verbleib bei Ungarn, in den Umlandgemeinden hatten 54,6 Prozent für Österreich gestimmt.[19] Das Venediger Protokoll bestimmte, dass die Ergebnisse zusammenzuzählen sind, somit votierten 65,1 Prozent für Ungarn. Sämtliche nachfolgend eingebrachten Einwände der österreichischen Regierung hinsichtlich des Ablaufs der Volksabstimmung waren berechtigt, konnten aber keine Änderung des Ergebnisses herbeiführen. Die österreichische Regierung anerkannte schließlich das Ergebnis am 30. Dezember offiziell und widerwillig.[20] Am 1. Jänner 1922 erfolgte die offizielle Übergabe der Stadt Ödenburg an Ungarn; ihr amtlicher Name lautet ab nun Sopron. Erst jetzt konnte die Grenzziehungskommission, die bereits im Juni 1921 gebildet worden war, ihre Arbeit aufnehmen, die erst Anfang August 1924 beendet werden konnte.

Vor 100 Jahren – 1921 – wurde das Burgenland, dessen Name sich nicht von mächtigen Burgen, sondern von der Bezeichnung „burg“ der von Österreich beanspruchten Komitate Pressburg (Bratislava, ung. Pozsony), Wieselburg (Moson), Ödenburg (Sopron) und Eisenburg (Vas) ableitet, ein eigenständiges Bundesland der Republik Österreich. Es war bereits im B-VG 1920 als solches aufgezählt worden. 1922 konnten die ersten Landtagswahlen durchgeführt werden; nachdem mit dem Verlust von Ödenburg Westungarn seine Hauptstadt verloren hatte, einigte man sich auf Eisenstadt. Die Stadt wurde erst 1965 auch offiziell als Hauptstadt des „jüngsten“ Bundeslandes Österreichs erkannt.


[1] Dieser Kommentar beruht in erster Linie auf Arnold Suppan, Die imperialistische Friedensordnung Mitteleuropas in den Verträgen von St. Germain und Trianon, in: Helmut Rumpler (Hrsg.), Die Habsburgermonarchie und der Erste Weltkrieg Teil 2: Vom Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn zum neuen Europa der Nationalstaaten, Wien 2016, 1257-1341; Ibolya Murber, Ungarn und sein Friedensvertrag von Trianon 1920, in: Michael Gehler, Thomas Olechowski, Stefan Wedrac, Anita Ziegerhofer (Hrsg.), Der Vertrag von St. Germain (= BRGÖ 2/2019), 418-429; Richard Lein, Die „Burgenlandnahme“ 1919-1924, in: Maximilian Graf, Alexander Lass, Karlo Ruzicic-Kessler (Hrsg.), Das Burgenland als internationale Grenzregion im 20. und 21. Jahrhundert, Wien 2021, 1-43.

[2] Arnold Suppan, Die imperialistische Friedensordnung Mitteleuropas in den Verträgen von St. Germain und Trianon, in: Helmut Rumpler (Hrsg.), Die Habsburgermonarchie und der Erste Weltkrieg Teil 2: Vom Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn zum neuen Europa der Nationalstaaten, Wien 2016, 1257-1341.

[3] Arnold Suppan, Friedensordnung, 1317.

[4] Ebenda.

[5] Archiv des Karl von Vogelsang-Instituts, Bestand Christlichsoziales Parteiarchiv/Parlamentsklub, Sign. 102; Niederschrift zur zweiten Sitzung der „Verwaltungsstelle für den Anschluß Deutsch-Westungarns“ am 4. September 1919.

[6] Ebenda.

[7] Suppan, Friedensordnung, 1317.

[8] Ibolya Murber, Ungarn und sein Friedensvertrag von Trianon 1920, in: Michael Gehler, Thomas Olechowski, Stefan Wedrac, Anita Ziegerhofer (Hrsg.), Der Vertrag von St. Germain (= BRGÖ 2/2019), 423.

[9] Ebenda.

[10] Suppan, Friedensordnung, 1322.

[11] Richard Lein, Die „Burgenlandnahme“ 1919-1924, in: Maximilian Graf, Alexander Lass, Karlo Ruzicic-Kessler (Hrsg.), Das Burgenland als internationale Grenzregion im 20. und 21. Jahrhundert, Wien 2021, 30.

[12] Suppan, Friedensordnung, 1322.

[13] Lein, „Burgenlandnahme“, 34.

[14] Archiv des Karl von Vogelsang-Instituts, Bestand Christlichsoziales Parteiarchiv/Parlamentsklub, Sign. 102; Stellungnahme der Christlichsozialen Partei zur Frage Ödenburg im September 1921.

[15] Ebenda.

[16] Ebenda.

[17] Lein, „Burgenlandnahme“, 36-38.

[18] Suppan, Friedensordnung, 1323.

[19] Lein, „Burgenlandnahme“, 41.

[20] Lein, „Burgenlandnahme“, 41.

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