100 Jahre österreichische Bundesverfassung. Das Christlichsoziale Verfassungskomitee 1919

Kommentar (Univ.-Prof. Dr. Franz Schausberger)

Der Christlichsoziale Parlamentsklub bildete ein Verfassungskomitee, das insgesamt sechs Sitzungen abhielt. Das Komitee tagte am 25. Juli, am 19. November, 20. November, 25. November, 27. November und am 2. Dezember 1919. Die Protokolle dieser Sitzungen sind im Archiv des Karl-von-Vogelsang-Instituts und wurden von Univ. Prof. Dr. Lothar Höbelt aus dem Gabelsberger Stenogramm transferiert, wofür wir ihm sehr danken. 

Als Österreich im Oktober 2020 das Jubiläum „100 Jahre österreichische Bundesverfassung“ beging, standen vor allem der Sozialdemokrat Karl Renner als damaliger Staatskanzler sowie der von ihm beauftragte Staatsrechtler Hans Kelsen im Rampenlicht und eventuell noch der eigens mit den Vorbereitungen für eine österreichische Verfassung beauftragte Christlichsoziale Staatssekretär Michael Mayr. Dabei wird vielfach das große Engagement zumindest mehrerer Länder in der Verfassungsdiskussion übersehen, das schließlich – nach anfänglich total divergierenden Ansichten zwischen den überwiegend Christlichsoziale dominierten Ländern und den sozialdemokratischen Mitgliedern der Staatsregierung und der Stadt Wien – doch am 1. Oktober 1920 zur Beschlussfassung des Bundes-Verfassungsgesetzes führte. Schließlich hatte ja die am 16. Februar 1919 gewählte Konstituierende Nationalversammlung – wie schon der Name beinhaltet – die Hauptaufgabe, eine Verfassung auszuarbeiten und zu beschließen.

Dabei ist auch daran zu erinnern, dass nach dem Friedensvertrag von St. Germain die Koalition aus Sozialdemokraten und Christlichsozialen unter Staatskanzler Renner am 7. Juli 1920 zerbrach und die Regierung des Christlichsozialen Michael Mayr gebildet wurde, die im Wesentlichen die Aufgabe hatte, die Arbeiten an der Verfassung zu Ende zu führen. Nachdem mit dem Beschluss der Nationalversammlung vom 1. Oktober 1920 diese Aufgabe erledigt war, schieden die Sozialdemokraten am 22. Oktober 1920 aus der Regierung aus, die Christlichsozialen regierten bis 21. Juni 1921 alleine weiter. Das heißt, die österreichische Bundesverfassung wurde von der Koalitionsregierung unter der Leitung des Christlichsozialen Michael Mayr beschlossen.

Die wichtigste Frage in der Debatte um die neue Verfassung war die der grundlegenden Gestaltung des neuen Staates: Sollte er föderalistisch oder zentralistisch organisiert sein. Hier zeigten sich die großen, grundsätzlichen Unterschiede der großen politischen Kräfte. Eine endgültige Einigung zur verfassungsmäßigen Regelung des Verhältnisses zwischen Bund und Ländern konnte 1920 nicht erzielt werden. Dieses Provisorium konnte erst durch die B-VG-Novelle 1925 unter dem Salzburger Bundeskanzler Rudolf Ramek überwunden werden.

Die allerersten Verfassungsüberlegungen in Wien gingen in die Richtung eines zentralistischen Einheitsstaates. Dies ließ die politische Realität allerdings bald als nicht machbar erscheinen. Not und Nahrungsmittelknappheit waren zu groß, man brauchte die Länder. Daher gab es sehr bald föderale Signale, um die Länder von Separationsgelüsten abzuhalten.

Schon am 26. Oktober 1918 beschloss der Vollzugsausschuss der Deutschösterreichischen Nationalversammlung, bis zur endgültigen Festlegung der deutschösterreichischen Staatsstruktur zur Vertretung der Länder provisorische Landesversammlungen und Landesausschüsse zu berufen. Damit sollte jedenfalls die Existenz der Länder mit eigenen Vertretungen anerkannt werden, allerdings nur vorerst und provisorisch.

Wie der Berichterstatter Karl Renner in der Sitzung der provisorischen Nationalversammlung am 30. Oktober 1918 feststellte, war der vorgelegte Entwurf keine wirkliche Verfassung, sondern ein „Notdach, die erste Aufrichtung einer öffentlichen Gewalt.“ Über die Staatsform – ob Monarchie, Demokratie oder Republik – wurde nichts ausgesagt. Die oberste Gewalt lag bei der provisorischen Nationalversammlung. Der Vollzugsausschuss entsprach der Regierung. Über die Stellung der Länder wurde nicht diskutiert. Sie fanden nicht einmal eine Erwähnung. Der Staat wurde als zentralistischer Einheitsstaat begründet.

In der „Schrecksekunde“ der ersten Wochen des politischen Umbruches und der Wirren des Kriegsendes ordneten sich die politischen Repräsentanten der meisten (Kron-)Länder völlig dem neuen Staatsrat unter und fügten sich anstandslos dessen Anordnungen. Allerdings begann das Selbstbewusstsein der Länder sehr bald stark zu steigen. Auf Betreiben der Salzburger Christlichsozialen begannen die Vertreter der „Alpenländer“ bei einem Treffen in Salzburg am 12./13. Mai 1919 eine einheitliche Position zu erarbeiteten. Heute würde man von einer „Westachse“ sprechen. Die Parteien auf Staatsebene kamen unter Zugzwang. Einen Tag nach dieser Salzburger Konferenz, am 14. Mai 1919 brachte die Christlichsoziale Partei ihren Verfassungsentwurf in der Nationalversammlung ein. Dieser Antrag war die erste parlamentarische Initiative zur Verfassung.

Der Entwurf, der im Archiv des Karl-von-Vogelsang-Instituts vorhanden ist, hatte folgenden Titel: „Wir freien Völker der selbständigen Länder Österreich nieder der Enns, Österreich ob der Enns, Salzburg, Steiermark, Kärnten, Tirol, Vorarlberg, Heinzenland und der Freistaat Wien schließen uns aus eigenem Antriebe und aus freiem Entschlusse zum deutschen Bundesfreistaate Österreich zusammen und geben uns im Vertrauen auf Gottes gnädigen Beistand nachstehende Verfassung“.

Die Länder sollten im Rahmen der Bundesverfassung die volle Souveränität haben. Neben dem Nationalrat sollte ein Ständerat mit je drei Vertretern aus jedem Bundesland geschaffen werden. Beide Kammern gemeinsam sollten den Präsidenten und Vizepräsidenten des Bundesstaates für eine Amtsdauer von zwei Jahren und die Bundesregierung wählen. Gesetze sollten nur durch einen übereinstimmenden Beschluss beider Kammern zustande kommen. Der Staat müsse „Freistaat Österreich“ und nicht „Deutschösterreich“ heißen. Der Christlichsoziale Antrag stieß auf heftige Ablehnung bei den anderen Parteien. In weiterer Folge präsentierten auch die anderen Parteien ihre Überlegungen und Staatskanzler Renner beauftragte den Rechtswissenschaftler Hans Kelsen mit der Ausarbeitung eines Entwurfs der Staatsregierung.

Am 25. Juli 1919 konstituierte sich das Christlichsoziale Verfassungskomitee, das aber erst am 19. November seine Arbeit intensiv fortsetzte. Das hing damit zusammen, dass bei der 7. Länderkonferenz in Wien am 12. Oktober 1919 Staatskanzler Renner den Ländervertretern berichtet hatte, dass zwischen den beiden Koalitionsparteien „eine volle Übereinstimmung über die Grundsätze der künftigen Verfassung Österreichs“ erzielt worden sei. Auf deren Grundlage arbeite die Regierung nun einen Entwurf aus, der um Weihnachten 1919 vertraulich einer Länderkonferenz vorgelegt werde. Nach den Prüfungen und Stellungnahmen der Landesregierungen würden die Parlamentsparteien darüber beraten. Der Entwurf könne dann in der Frühjahrssession 1920 im Parlament und im Rahmen einer Enquete der Länder beraten werden. Spätestens in der Herbstsession des Parlaments könnte die neue Verfassung beschlossen werden. Auf Grund dieser Informationen Renners zog die Christlichsoziale „Reichspost“ das Resümee, dass der Christlichsoziale Bundesstaatsgedanke siegreich geblieben sei.

Die am 16. Februar 1920 in Salzburg durchgeführte Länderkonferenz brachte eine klare Mehrheit der Ländervertreter für den Bundesstaat und gegen den Zentralstaat. Dies war eine wichtige Vorentscheidung für die Ausarbeitung des endgültigen Verfassungsentwurfes durch Staatssekretär Mayr, der dann am 1. Oktober 1920 zur Verfassung eines – wenn auch eher schwachen – föderalistischen Bundesstaates führte.

Univ.-Prof. Dr. Franz Schausberger

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Transkription (Univ.-Prof. Dr. Lothar Höbelt)