Leopold Kunschak

Leopold Kunschak kam 1871 in einfachsten Verhältnissen in Wien zur Welt. Er absolvierte die Sattlerlehre und fand als Arbeiter in der Simmeringer Waggonfabrik eine Anstellung. Ausgelöst durch einen Straßenbahnerstreik begann er sich für Politik zu interessieren. Aufgrund seiner katholisch-religiösen Einstellung kam er in Kontakt mit den katholischen Sozialreformern rund um Karl von Vogelsang und gründete als Zwanzigjähriger 1892 den „Christlichsozialen Arbeiterverein für Österreich“. Schon bald war Kunschak die unumstrittene Führungspersönlichkeit der christlichen Arbeiterbewegung in Österreich. Bereits in den Jahren der ausgehenden Monarchie bekleidete er zahlreiche politische Funktionen. Er gehörte dem Wiener Gemeinderat und dem Niederösterreichischen Landtag an und war ab 1913 Mitglied des Niederösterreichischen Landesauschusses, des Exekutivorgans der Landes-verwaltung.

Von 1907 bis 1911 gehörte er als Mitglied des Abgeordnetenhauses dem Reichsrat an. 1919 war er Mitglied der Konstitiuierenden Nationalversammlung und von 1920 bis 1934 Mitglied des Nationalrates. 1919 bis 1932 war Kunschak Obmann der Wiener Christlichsozialen, 1920 bis 1921 Obmann der Gesamtpartei, 1932 übte er für kurze Zeit die Funktion des Klubobmannes des Parlamentsklubs aus. Daneben gehörte er weiterhin bis 1934 dem Wiener Gemeinderat als Abgeordneter an, ab 1922 war er auch nicht-amtsführender Stadtrat und Klubobmann in Wien.

Kunschak blieb stets ein authentischer und persönlich anspruchsloser Arbeitnehmervertreter, der in seiner Politik die sozialen Fragen der Arbeiterschaft in der Zwischenkriegszeit ansprach. Allerdings vertrat er dabei nicht nur kapitalismuskritische, sondern auch antisemitische Positionen.

Er war Zeit seines Lebens überzeugter Demokrat und rief noch drei Tage vor Ausbruch der Februarkämpfe 1934 in einer Rede im Wiener Gemeinderat zu Besonnenheit und Versöhnung auf. Im Rahmen des autoritären Österreich mahnte Kunschak, der 1934 in den Staatsrat berufen wurde, wiederholt eine Versöhnung mit der sozialdemokratischen Arbeiterschaft und demokratische Reformen ein.

Im März 1938 und nochmals nach dem Attentat vom 20. Juli 1944 wurde er von den Nationalsozialisten verhaftet. Er stand in Kontakt mit Lois Weinberger und Felix Hurdes, bei denen im Untergrund die Fäden für die Gründung einer neuen bürgerlichen Sammelpartei zusammenliefen. Am 14. April 1945 war er einer der Mitbegründer des Österreichischen Arbeiter- und Angestelltenbundes, drei Tage später wurde er Gründungsobmann der Österreichischen Volkspartei. Für diese unterzeichnete er am 27. April die Österreichische Unabhängigkeitserklärung, überließ aber anschließend den Platz als führender Vertreter der ÖVP in der Provisorischen Staatsregierung dem jüngeren Leopold Figl und wurde Vizebürgermeister von Wien. Im September 1945 übernahm Figl von Kunschak die Obmannschaft der ÖVP, der in einer Ehrenfunktion als Präsident der Partei fungierte.

Bei den Wahlen vom 25. November 1945 wurde er neuerlich in den Nationalrat gewählt. Der zu diesem Zeitpunkt 75-jährige Kunschak, dessen politische Laufbahn zu diesem Zeitpunkt schon mehr als fünf Jahrzehnte zurückreichte, wurde im Dezember 1945 zum ersten Präsidenten des Nationalrats nach dem Zweiten Weltkrieg gewählt, eine Funktion, die er bis zu seinem Tod 1953 innehatte.