4. März 1933: Multikausaler Crash des Nationalrats (F. Schausberger)

Die Ereignisse des 4. März 1933 im Nationalrat, die zur sogenannten „Selbstauflösung des Parlaments“ führten und die Rolle der drei Nationalratspräsidenten Karl Renner, Rudolf Ramek und Sepp Straffner sollen – obwohl schon vielfach dargestellt – hier – 90 Jahre danach – noch einmal ausführlich behandelt werden.[1]

Es ging wieder einmal um einen Eisenbahner-Streik, der – wie schon so oft – gravierende innenpolitische Auswirkungen haben sollte, der Demonstrationsstreik vom 1. März 1933 führte zur „Selbstauflösung“ des österreichischen Nationalrats.

Parlamentssitzung im März 1933, Das Foto zeigt die Tribüne mit Nationalratspräsident Karl Renner und Bundeskanzler Engelbert Dollfuß; Archiv des Parlaments.

Auf Grund der fehlenden finanziellen Mittel und der katastrophalen wirtschaftlichen Situation der Österreichischen Bundesbahnen, die im Jahr 1923 aus der Hoheitsverwaltung ausgegliedert und privatwirtschaftlich geführt wurden, sollte die Bezahlung der Märzgehaltes in drei Raten erfolgen, was von der Eisenbahnergewerkschaft entrüstet abgelehnt und mit einer Streikdrohung beantwortet wurde. Diese Streikdrohung wurde von der Regierung Dollfuß als wirtschaftlich nicht gerechtfertigt und daher als politischer Affront gegen die Regierung angesehen. Die Gewerkschaften gaben vor, diesen Streik als Beruhigungsaktion gegenüber den aufgebrachten Eisenbahnern durchführen zu müssen. Die Regierung, die noch von den Auseinandersetzungen um die Lausanner Anleihe und der sogenannten „Hirtenberger Waffenaffäre“ unter schwerem Druck stand, kündigte an, mit aller Härte gegen die Streikorganisatoren und die Streikenden vorgehen zu wollen.

Der neue Generaldirektor der Bundesbahnen, Anton Schöpfer[2], der erst am 25. Februar 1933 als Nachfolger von Generaldirektor Egon Ewald Seefehlner[3] ernannt worden war, bemühte sich in Verhandlungen um eine Lösung, allein der Streikbeschluss war bereits gefasst. Die Eisenbahnbediensteten traten am 1. März 1933 zwischen 9 und 11 Uhr in den Streik.

Der Streik war von der nationalen Gewerkschaft, die zu 80 Prozent aus Nationalsozialisten bestand, ausgegangen und von dieser als politische Aktion gegen die Regierung angesehen worden. Dies ging u. a. aus einem Aufruf der Deutschen Verkehrsgewerkschaft der Generaldirektion der Bundesbahnen hervor, der den Streik als eindeutig gegen die Regierung gerichtet deklarierte.[4] „Und da ist nun die Angst gekommen, die könnten uns den Rang ablaufen, es könnte zum Schluss heißen, das sind diejenigen, die sich was trauen, und die Sozi und die Christlichen sind feige Kerle, die keine Courage haben. Aus dieser Psychose, aus dieser Mentalität heraus ist meiner innersten Überzeugung nach dieser Streik entstanden“, analysierte Leopold Kunschak die Unterstützung des Streiks durch die anderen gewerkschaftlichen Gruppen.[5]. Der Streik muss auch im Zusammenhang mit dem in Deutschland laufenden, von nationalsozialistischem Terror dominierten Wahlkampf gesehen werden, der seine Schatten auch nach Österreich warf. In der mittleren und höheren Beamtenschaft der Österreichischen Bundesbahnen dominierten bereits die Nationalsozialisten. Dollfuß sah daher den Streik vor allem als politische Aktion der Nationalsozialisten und auch der Sozialdemokraten gegen die Regierung an.[6]

Die Regierung, die sich auf eine in Geltung stehende kaiserliche Verordnung aus dem Jahr 1914 berief, ließ zahlreiche Verhaftungen vornehmen, ordnete Lohnkürzungen an und sprach erste Entlassungen aus. 42 am Streik beteiligte höhere Beamte wurden suspendiert.[7]

Interessant ist die Kommentierung des „verunglückten Proteststreiks“ durch den der Regierung sehr kritisch gegenüber stehenden „Österreichischen Volkswirts“. Der Streik sei nur daraus zu erklären, „dass in diesem Betrieb drei Gewerkschaften in Wettbewerb stehen, deren keine sich von der anderen überbieten lassen kann. Keine allein verantwortliche Gewerkschaft hätte diesen Streik angeordnet oder geduldet, denn er war der unsinnigsten einer. Nie wird es gelingen, die öffentliche Meinung für den Abwehrkampf gegen eine Maßnahme zu erhitzen, die vor allem von dem großen Heer der wöchentlich entlohnten Arbeiterschaft gar nicht als Härte nachempfunden wird […] Die Eisenbahnergewerkschaften scheinen noch nicht bemerkt zu haben, in welcher Zeit wir leben. Die Sozialdemokratie im besonderen […] sollte nicht mehr so tun können, als ob der Streik eine Schablone wäre, anwendbar gegen jede Unbill, ohne Bedachtnahme auf die Weltlage, die Finanzlage und darauf, ob man mit dem Streik überhaupt das erzwingen kann, worum es geht.“[8]

Der sozialdemokratische Parteivorstand trat schon am Tag des Streiks um 20 Uhr zusammen. Abgeordneter Berthold König berichtete von einer Unterredung mit dem zuständigen Minister Guido Jakoncig, der mitgeteilt hatte, dass die Entscheidungen über die Suspendierungen durch den Minister erfolgen würden. Robert Danneberg wiederum informierte, dass Dollfuß anerkannt habe, dass beim Streik große Disziplin geherrscht habe, sodass alle Verhaftungen wieder aufgehoben seien. Einige Eisenbahner seien wegen Sabotage suspendiert worden. Das Parlament solle am Samstag, 4. März zu einer Sondersitzung zusammentreten. Der Parteivorstand beschloss, der Abgeordnete König solle in einem dringlichen Antrag und einem Beschlussantrag die Regierung auffordern, ihren Verpflichtungen gegenüber den Bediensteten restlos nachzukommen und alle Maßregelungen zurückzuziehen. Für 4. März sollte um 11 Uhr der sozialdemokratische Klubvorstand einberufen werden.[9]

Die von den Sozialdemokraten zu diesem Thema verlangte Sondersitzung des Nationalrats fand am Samstag. 4. März 1933 statt. Nationalratspräsident Renner eröffnete um 15 Uhr 15 die Sitzung.

Auf der Tagesordnung standen eine dringliche Anfrage des sozialdemokratischen Abgeordneten und Zentralsekretärs der Eisenbahnergewerkschaft, Berthold König, wegen der Maßregelung von Verkehrsbediensteten aus Anlass des jüngsten Eisenbahnerstreiks. König verlangte, dass die Generaldirektion der Bundesbahnen an ihre Bediensteten die Bezüge voll ausbezahle und keinerlei Maßregelungen gegenüber den Initiatoren und Teilnehmern des Proteststreiks setze. Alle bereits veranlassten Maßregelungen seien zurückzunehmen.

Ein zweite dringliche Anfrage der großdeutschen Abgeordneten Schürff, Prodinger und Straffner wies darauf hin, dass auch früher bei Streiks, auch wenn sie aus politischen Gründen erfolgten, keine Maßregelungen eingeleitet wurden. Außerdem habe die Generaldirektion der Bundesbahnen bis zum letzten Tag vor dem Streik mit den Vertretern der Bediensteten verhandelt, ohne solche Maßnahmen zu erwähnen. Erst unmittelbar vor dem Streik sei darauf hingewiesen worden. Es sollten daher die Streikenden gleich behandelt werden wie jene des Eisenbahnerstreiks des Jahres 1927, nämlich ohne Sanktionen.

Der Sozialdemokrat König versuchte nachzuweisen, dass der Streik kein politischer Streik gegen die Regierung gewesen sei, sondern ein Streik zur Abwehr wirtschaftlicher Schäden, nachdem am 16. Februar vom Generaldirektor der Bundesbahnen mitgeteilt worden war, dass die Bezüge und Pensionen im März nur mehr zu 60 Prozent und zwar in zwei Tranchen ausbezahlt werden könnten. Die restlichen 40 Prozent wurden nur mehr in Aussicht gestellt, wenn genügend Geld vorhanden sei. Die Vertreter der Dienstnehmer nahmen dies nicht zur Kenntnis und kündigten einen Proteststreik an. Nach seiner sehr provozierenden Rede wandelte er die in der Anfrage enthaltenen Forderungen in einen Antrag um.[10]

Der großdeutsche Abgeordnete und frühere Handels- und Verkehrsminister Schürff zeigte sich dem Streik gegenüber grundsätzlich skeptisch, da er für das Eisenbahnpersonal keinen Erfolg und für das Unternehmen Schaden gebracht habe. Schürff forderte u. a. die Rückführung der Bundesbahnen, die 1923 als selbständiger kommerzieller Betrieb aus der Hoheitsverwaltung ausgegliedert worden waren, in die Hoheitsverwaltung und damit die Gleichstellung der Bundesbahnangestellten mit den Bundesangestellten. Und auch Schürff erhob die Forderung nach Gleichbehandlung der Streikenden vom 1. März 1933 mit denen des Streiks vom Jahr 1927, d. h. Verzicht auf Sanktionen, zu einem Antrag.[11]

Der zuständige Minister für Handel und Verkehr, Guido Jakoncig, wies darauf hin, dass die Generaldirektion der Bundesbahnen schon im Jahr 1932 mehrfach auf die äußerst schwierige finanzielle Situation der Bundesbahnen hingewiesen hatte. Es sei immer wieder an das Finanzministerium das Ersuchen gerichtet worden, die Bundesbahnen finanziell zu unterstützen, um die Auszahlung der Gehälter sicherzustellen. Allerdings seien die notwendigen Geldmittel dafür nicht zur Verfügung gestanden. Generaldirektor Schöpfer bemühte sich, bis 25. Februar die finanziellen Mittel in intensiven Verhandlungen mit der Regierung und der Nationalbank sicherzustellen. Seine Bemühungen waren allerdings vergeblich. Zu diesem Zeitpunkt war von den Gewerkschaften die Streikparole für den 1. März bereits ausgegeben. Der Generaldirektor wandte sich am 25. Februar in einem Aufruf direkt an die Bundesbahner und warnte eindringlich vor dem Streik. Gegenüber den Gewerkschaftern gab er auch die Zusicherung ab, dass die Auszahlung der Märzrate am 21. März sichergestellt sei. Es ging also nur mehr um eine Differenz von fünf Tagen, nämlich um die Auszahlung der letzten Rate am 21. statt am 15. März.

Nachdem weder von der Regierung noch von der Nationalbank Hilfe erfolgen konnte, versuchte die Generaldirektion einen Privatbankkredit zu erhalten. Dies hätte aber zur unerlässlichen Voraussetzung gehabt, dass der Streik unverzüglich abgesagt hätte werden müssen.[12]

Für die Christlichsozialen forderte der alte Gewerkschafter Leopold Kunschak, die Erhebungen der Bundesbahn-Generaldirektion gegen Streikteilnehmer sofort zum Abschluss zu bringen, um wieder Ruhe einkehren zu lassen. Die Erhebungen seien dem Bundesminister für Handel und Verkehr zur Entscheidung zu übermitteln. Härten seien zu vermeiden und einzelne Fälle der Bundesregierung zur Entscheidung vorzulegen. Der Streik „war zu kurz für einen Streik, um ein Ziel durchzusetzen, und er war zu lang, um nur zu demonstrieren. Einen Demonstrationsstreik tut man in zehn Minuten ab, aber man legt nicht zwei Stunden lang ein internationales Verkehrsnetz vollständig brach.“[13]

Die offizielle Anerkennung der Regierung für „ihre Pflichttreue und ihre Opfer“ sprach Bundeskanzler Dollfuß den Bediensteten der Bundesbahnen zu Beginn seiner Wortmeldung aus. „Denn es ist zweifellos, dass der Abbau in einem Betriebe von 112.000 Angestellten auf 65.000 enorme Opfer, Mehrleistungen der übrigen Angestellten bedeutet. Trotzdem wurde der Betrieb gewissenhaft geführt […] umso unverständlicher musste es sein, dass, wenn alle diese Opfer in kluger Einsicht ertragen werden konnten, schließlich und endlich eine Frage, ob die Auszahlung der Bezüge am 15. oder 21. des Monates erfolgen solle, zur Anwendung des äußersten gewerkschaftlichen Mittels geführt hat.“ Daher sei es schlüssig, dass es sich um einen politischen Streik gehandelt habe, der abzulehnen sei, weil die Bundesbahnen ein Eigentum des österreichischen Volkes und nicht einzelner Gewerkschaften sei. Außerdem verteidigte Dollfuß die Geltung der von der Regierung angewandten Verordnung aus dem Jahr 1914 und erinnerte die Opposition daran, dass sie nach der Gründung der Republik genügend Möglichkeiten gehabt hätte, diese Verordnung zu beseitigen. Man habe sich aber damals wohl gedacht, „wer weiß, wozu diese Verordnung einmal gut ist.“ Der Bundeskanzler wies außerdem darauf hin, dass die Bundesregierung – im Gegensatz zu früher – in zwei Jahren fast 163 Millionen Schilling für die Abgänge der Bundesbahnen zur Verfügung gestellt habe. Die Regierung sei allerdings nicht in der Lage, darüber hinaus zu gehen. Bei den Maßregeln gegenüber den Streikenden werde die Bundesregierung „der Beschleunigung wie auch der Milde Rechnung tragen.“[14]

Dann kann es zu den Abstimmungen. Es soll im Detail dargestellt werden, welche Partei wie gestimmt hat. Bei der ersten Abstimmung waren 163 Abgeordnete anwesend, bei der zweiten Abstimmung nur mehr 162, da der aus der SDAP ausgeschlossene Abgeordnete Franz Zelenka die Sitzung verließ. Der jeweilige vorsitzführende Präsident durfte nicht mitstimmen. Der Antrag der Sozialdemokraten wurde mit 91 Nein-Stimmen zu 70 Ja-Stimmen eindeutig abgelehnt. Die anwesenden 70 sozialdemokratischen Abgeordneten stimmten geschlossen für ihren Antrag. 65 christlichsoziale Abgeordnete, 9 Landbund-Abgeordnete, 6 Heimatblock-Abgeordnete, 8 Großdeutsche Abgeordnete und die 2 parteifreien Abgeordneten Josef Hainzl und Hans Ebner (ehemals Heimatblock) und der parteifreie Abgeordnete Josef Vinzl (ehemals Nationaler Wirtschaftsblock), also insgesamt 91 Abgeordnete stimmten dagegen.

Der Antrag der Großdeutschen, gegen die Streikenden – so wie 1927 – keinerlei Maßnahmen zu ergreifen, wurde mit 81 Ja- gegen 80 Nein-Stimmen angenommen. Wie kam diese Mehrheit zustande? 70 Sozialdemokraten, 8 Großdeutsche und die zwei parteifreien, ehemaligen Heimatblock-Abgeordneten sowie der ehemalige Wirtschaftsblock-Abgeordnete Vinzl, also insgesamt 81 stimmten für den großdeutschen Antrag, 65 Christlichsoziale, 9 Landbündler und 6 sechs Heimatblock-Abgeordnete, also 80, votierten dagegen.

Die Opposition hatte also an diesem Tag 81 Stimmen (ohne Präsident Renner), die Regierungsparteien nur 80. Wenn alle 165 Abgeordneten anwesend gewesen wären, wären – bei gleichem Abstimmungsverhalten – die Regierungsparteien mit 81:84 Stimmen noch deutlicher in der Minderheit geblieben. Dies ist für den weiteren Verlauf der Sitzung von großer Bedeutung.

Das Ergebnis bedeutete eine schwere Niederlage der Regierungsparteien. Über die Frage, ob der christlichsoziale Antrag damit hinfällig sei oder abgestimmt werden solle, entstand eine sehr heftige Diskussion, die zu keinem Ergebnis führte, weshalb Präsident Renner die Sitzung für eine fast einstündige Präsidiumssitzung unterbrach, in der neuerliche Schwierigkeiten auftauchten, die dann schließlich zu den schicksalshaften Ereignissen führten.

In dieser Besprechung kam zutage, dass es bei beiden Abstimmungen zu Ungereimtheiten gekommen war. Während die Tatsache, dass bei der Abstimmung über den sozialdemokratischen Antrag von einem Abgeordneten zwei Stimmzettel abgegeben worden waren, am Gesamtergebnis nichts änderte, war der zweite Fall betreffend die Abstimmung über den großdeutschen Antrag wegen des äußerst knappen Ergebnisses von einer Stimme Mehrheit wesentlich sensibler. Präsident Renner musste in der wieder aufgenommenen Nationalratssitzung folgendes bekanntgeben: „Sowohl der Herr Abg. Abram als sein Sitznachbar Scheibein waren bei dieser in Rede stehenden Abstimmung zugegen. Der Beamte weiß, dass beide einen Stimmzettel abgegeben haben. Nun waren aber zwei Stimmzettel Abram und kein Stimmzettel Scheibein. Es muss also entweder schon in der Lade versehentlich eine Vermischung vorgelegen sein oder eine Verwechslung durch den Abg. Scheibein.“ Und dann versuchte Renner über diesen bei einem so knappen Ergebnis gravierenden Abstimmungsmangel einfach hinwegzugehen: „Da es aber außer allem Zweifel ist, dass beide persönlich ihre Stimme abgegeben haben und darüber gar kein Streit entstehen kann, so ist dadurch, dass zweimal Abram erschienen ist, keine Änderung im Stimmenverhältnis eingetreten und eine Korrektur nicht notwendig.“[15]

Diese Haltung Renners rief nun – durchaus verständlich – den heftigsten Protest der Regierungsparteien hervor. Der Präsident wollte zur Tagesordnung übergehen, die Christlichsozialen bestanden auf einer geschäftsordnungskonformen Lösung, die ein Ergebnis von 80:80 gebracht hätte, womit der Antrag abgelehnt gewesen wäre. Die Christlichsozialen meinten – nicht ganz unlogisch – dass formal nicht Abram für Scheibein stimmen konnte und daher eine Stimme ungültig sei und das Abstimmungsergebnis zu korrigieren sei. Bei genauer Lektüre des Stenographischen Protokolls zeigt sich, dass Präsident Renner bei der Bekanntgabe des Abstimmungsverhaltens der einzelnen Abgeordneten bei den Ja-Stimmen zweimal den Namen Abram, nicht aber den Namen Scheibein vorgelesen hatte. Schon zu diesem Zeitpunkt – also vor der Unterbrechung zur Präsidialkonferenz – hätte Renner auf diese Ungereimtheit hinweisen müssen. Er tat es nicht.

Nach längerer, emotionaler Debatte erklärte Präsident Renner, dass es unmöglich sei, den Vorsitz zu führen, wenn ein so großer Teil des Nationalrats den Entscheidungen des Vorsitzenden widerspricht. Er legte daher seine Stelle als Präsident nieder und setzte sich auf seinen Abgeordnetenplatz.

Der damalige Sekretär von Präsident Renner, der spätere Bundespräsident Adolf Schärf, erinnerte sich, wie es zu diesem Rücktritt kam. „In der Erörterung darüber, ob man die Abstimmung wiederholen solle oder nicht, legte sich der engste Führungskreis der Partei fest, ohne dass man die anwesenden Abgeordneten selbst befragt hätte […] Es war aber schwer, gegen die Tatsache anzukämpfen, dass die verkündete Mehrheit mit einer ungültigen Stimme zustande gekommen war. Während nun die Mitglieder des Abgeordnetenklubs in den Wandelhallen außerhalb des Sitzungssaales standen, entschlossen sich die vier Mitglieder der Parteiexekutive, dem Präsidenten Dr. Renner die Demission aufzutragen, damit er im Falle einer vielleicht doch nicht vermeidbaren Wiederholung der Abstimmung mitstimmen könne – was ihm als Vorsitzenden nach der Geschäftsordnung versagt war […] Ich [Schärf] sollte Dr. Renner diesen Auftrag überbringen. Mich befiel eine trübe Ahnung, es schien mir nicht gehörig, dass ein solcher Entscheid ohne Beschluss des Parteivorstandes oder des Abgeordnetenklubs erfolgte, ich erklärte: ‚Ich überbringe diese Nachricht an Dr. Renner nur dann, wenn ein Mitglied der Exekutive mit mir zu ihm geht‘. Das geschah auch. Dr. Renner fügte sich ohne ein Wort der Widerrede und demissionierte.“[16] Die Mitglieder der Klubexekutive, die Renner den Auftrag zum Rücktritt erteilten, waren Otto Bauer, Robert Danneberg, Albert Sever und Karl Seitz, Mit-Überbringer der Nachricht war Robert Danneberg.[17] Renner trug durch sein Verhalten an diesem 4. März 1933 „durch seine bedingungslose Parteidisziplin und Sorglosigkeit hinsichtlich der Geschäftsordnung entscheidend dazu bei, den Parlamentarismus vollends in Verruf zu bringen.“[18] Otto Bauer war mitverantwortlich für die Parlamentskrise des 4. März und gestand diesen Fehler später auch ein.[19] Auch Adolf Schärf ließ in seinen Erinnerungen keine Zweifel daran, dass er das Vorgehen seiner Parteigenossen für einen gravierenden Fehler hielt: „„Beide, weder Bauer noch Seitz, bedachten aber, dass es doch nicht angängig sei, einerseits für die Sozialdemokratie als die relativ stärkste Partei Funktion und Amt des ersten Präsidenten zu fordern, anderseits jedoch, wenn die Ausübung dieses Amtes der Partei sozusagen ein Opfer auferlegte, sofort nein zu sagen.“[20]

Nun musste Ramek als Zweiter Präsident den Vorsitz übernehmen und erklärte: „Mit Rücksicht auf den Widerspruch, der von einem großen Teil des Hauses gegen den früheren Vorgang bei der Abstimmung erhoben wurde, bleibt mir nichts anderes übrig, als diese Abstimmung für ungültig zu erklären.“ Seine Absicht, die Abstimmung zu wiederholen wäre tatsächlich die einzig korrekte Vorgangsweise gewesen. Zwei Stimmen hatten auf den Abgeordneten Abram gelautet, da aber jeder Abgeordnete nur eine Stimme abgeben konnte, musste der zweite Stimmzettel für ungültig erklärt werden. Eine Stimme des Abgeordneten Scheibein war überhaupt nicht abgegeben worden. Gegen die vorgeschlagene Vorgangsweise Rameks gab es stürmischen Widerspruch seitens der Sozialdemokraten. Die Abgeordneten Leopold Kunschak (er war gegen eine neue Abstimmung und für eine Revidierung des Ergebnisses auf 80:80) und Karl Seitz (an der Feststellung Renners dürfe nicht gerüttelt werden) bekräftigten nochmals die jeweiligen Positionen ihrer Parteien. Daraufhin erklärte Präsident Ramek unter Beifall der Regierungsfraktionen: „Da der von mir enunzierte Vorgang die Zustimmung eines großen Teiles des Hauses nicht findet, lege ich meine Stelle als Präsident nieder.“ Ramek hatte vorerst das Spiel mit dem taktischen Rücktritt, um auch mitstimmen zu können, nicht vorgehabt. Sicher nicht zum Wohlgefallen seiner Fraktion. Mit seinem Aufruf zur Wiederholung der Abstimmung hätte er nämlich einen Abstimmungssieg der Opposition gesichert. Auch wenn es den Regierungsfraktionen gelungen wäre, einen wankelmütigen Großdeutschen auf ihre Seite zu ziehen, wären sie in der Minderheit geblieben. Völlig ungerechtfertigt polemisierte Karl Seitz gegen die Wiederholung der Abstimmung und löste damit den Rücktritt Rameks aus.[21] Hätte die sozialdemokratische Fraktion die Vorgangsweise Rameks akzeptiert, wäre die Abstimmung eindeutig für sie ausgegangen.

Dies kreidete der sozialdemokratische Abgeordnete Wilhelm Ellenbogen in einer späteren Rückschau seinem Parteigenossen Seitz an: „Als der christlichsoziale Vizepräsident Ramek nun eine neue Abstimmung anordnen wollte, protestierte Seitz in seiner viel zu weit getriebenen Vorliebe für formal-juristische Feinheiten gegen die Anordnung dieser Abstimmung, worauf […] der dem Faschismus gar nicht wohlgesinnte […] Ramek ebenfalls seine Präsidentenstelle niederlegte.“[22]

Der daraufhin den Vorsitz übernehmende großdeutsche Präsident Straffner stellte sofort fest: „Da sich das Haus über die Streitfälle, die das Haus auf Grund der Abstimmung eben beschäftigen, nicht einigen kann, bin ich nicht in der Lage, die Sitzung des Hauses weiterzuführen, und lege ebenfalls meine Stelle als Präsident nieder.“ Auch seine Stimme hätte bei einer Wiederholung der Abstimmung der Opposition gefehlt. Unter lebhaften Rufen verließen die Abgeordneten um 21 Uhr 55 den Sitzungssaal. Das parlamentarische und demokratiepolitische Unheil konnte seinen Lauf nehmen.

Über die Frage, wie die Entwicklung in dieser Nationalratssitzung verhindert hätte werden können, wurden schon viele Spekulationen angestellt. Tatsache war, dass das Ergebnis der Abstimmung über den großdeutschen Antrag nicht korrekt und geschäftsordnungsgemäß zustande gekommen war. Zur Lösung der Krise gab es nur zwei Optionen: Das Ergebnis auf 80:80 zu korrigieren, was die Ablehnung des Antrags bedeutet hätte oder die Abstimmung zu wiederholen. Wie schon dargestellt wurde, hatte die Opposition an diesem Tag eine Mehrheit von 82 Stimmen gegen – wenn Ramek den Vorsitz führte – 79 Stimmen der Regierungsparteien. Es ist daher völlig unverständlich, dass die Sozialdemokraten gegen die Absicht Rameks, die Abstimmung zu wiederholen, wütenden Widerstand leisteten. Bei einer neuerlichen Abstimmung wäre die Ungereimtheit bereinigt und die Mehrheit mit ziemlicher Sicherheit sogar noch größer gewesen.

Vor lauter blindem Eifer, ihre Eisenbahner-Klientel vor Streiksanktionen zu schützen (zu denen Christlichsoziale und Regierung bereits ein sehr mildes Vorgehen signalisiert hatten), übersahen die Sozialdemokraten, dass sich aktuell die politische Gesamtsituation grundlegend geändert hatte. Adolf Hitler hatte fünf Wochen vorher, am 30. Jänner 1933 die Macht ergriffen. Der unter dem Eindruck der beginnenden Diktatur des Nationalsozialismus abgelaufene Wahlkampf in Deutschland, der einen Tag nach der schicksalshaften Nationalratssitzung in Österreich im Sieg der Nationalsozialisten und schließlich in der neuerlichen Bildung einer Regierung unter Führung Hitlers mündete, brachte die Regierung Dollfuß nicht nur im Inneren sondern auch von außen unter enormen Druck. Otto Bauer sah dies sehr bald ein und resümierte schon 1934: „Am folgenden Tag erkämpfte Hitler in Deutschland seinen großen Wahlsieg; wir hatten im Eifer […] die Eisenbahner zu schützen, nicht bedacht, welchen unmittelbaren Einfluss die Umwälzungen in Deutschland auf Österreich üben konnten. So haben wir durch Renners Demission der Regierung Dollfuß den Vorwand zur Ausschaltung des Parlamentes geliefert: Das war unzweifelhaft eine ‚linke Abweichung‘“.[23] Bei der Beurteilung der weiteren innenpolitischen Ereignisse in Österreich darf also nicht nur die Sitzung des Nationalrats vom 4. März 1933 als punktuelles Ereignis betrachtet werden, sondern muss auch die generell unversöhnliche Oppositionspolitik der Sozialdemokraten und deren, von Parteiinteressen geprägtes Taktieren einbezogen werden. Man darf nicht vergessen, dass die verzweifelten Versuche von Bundeskanzler Dollfuß im April 1932, die Sozialdemokraten in eine Regierung einzubinden, an deren rein parteitaktischen Überlegungen gescheitert waren.[24] Eine monokausale Erklärung und eine apodiktische einseitige „Schuldzuweisung“ (soweit diese überhaupt einen Sinn gibt), ist nicht möglich.[25]

Ramek jedenfalls wies im christlichsozialen Klubvorstand immer wieder auf die (wenn auch mageren) Möglichkeiten der Geschäftsordnung zur Sanierung der Lage hin. Dollfuß aber war nicht mehr bereit, diese Möglichkeiten zu nützen.[26] Auch im Bundesrat gab es seit den großen Erfolgen der NSDAP bei den Landtagswahlen 1932 eine Mehrheit aus Sozialdemokraten und Nationalsozialisten (die dieses Forum sofort radikalisierten) gegenüber der Regierung.[27] Der zunehmende Druck des siegreichen Nationalsozialismus in Deutschland, das politische Drängen seitens des faschistischen Italien, die Tatsache, dass zu diesem Zeitpunkt in mindestens elf Ländern Europas autoritäre bzw. diktatorische Regime herrschten und die totale Nicht-Bereitschaft der Sozialdemokraten in Österreich zu irgendeiner Zusammenarbeit sollen hier nicht als Verharmlosung dessen, was in der Folge passierte, verstanden werden, sondern zum besseren Verstehen beitragen.

Mit Änderungen und Ergänzungen aus:

Franz Schausberger: Rudolf Ramek 1881 – 1941. Konsenskanzler im Österreich der Gegensätze. Wien, Köln, Weimar 2017. S. 765 – S. 774. 


[1] Vgl. die ausführliche Studie von Ulfried Burz: Von der Tücke zum Detail. Der 4. März 1933 und die österreichische Zeitgeschichtsforschung. In: Franz Schausberger (Hg.): Geschichte und Identität. Festschrift für Robert Kriechbaumer zum 60. Geburtstag. Wien, Köln, Weimar 2008. S. 282 – S. 295. Ebenso Gerhard Botz: Die Ausschaltung des Nationalrates und die Anfänge der Diktatur Dollfuß‘ im Urteil der Geschichtsschreibung von 1933 bis 1973. In: Vierzig Jahre danach. Der 4. März 1933 im Urteil von Zeitgenossen und Historikern. Herausgegeben vom Dr.-Karl-Renner Institut. Wien 1973. S. 31 – S. 59.

[2] Anton Schöpfer (1879 – 1960), österreichischer Verwaltungsjurist, 1933 – März 1938 Generaldirektor der Österreichischen Bundesbahnen. 1956/57 Landesparteiobmann der FPÖ Tirol.

[3] Egon Ewald Seefehlner   (1874 – 1946), Eisenbahnfachmann und Elektrotechniker, 1931 bis 1933 Generaldirektor der Österreichischen Bundesbahnen.

[4] Der Aufruf hatte folgenden Wortlaut: „Deutsche Verkehrsgewerkschaft, Wien, 29. Februar 1933. Werter Herr Kamerad! Sie werden hiermit aufgefordert, anlässlich des gegen die Regierung geltenden Warnungsstreikes am 1. März während der Zeit von 9 bis 11 Uhr das Bureau zu verlassen. Durch ein eventuelles Fernbleiben im Bureau bezeugen Sie, dass Sie nicht die Regierung, sondern die Verwaltung als schuldtragend an der jetzigen Lage der Eisenbahnen und ihrer Bediensteten betrachten. Das Verbleiben im Bureau wird außerdem als Streikbruch gewertet. Die Ortsgruppenleitung.“ StP. 125. Sitzung. NR. 4. 3. 1933. S. 3369.

[5] StP. 125. Sitzung. NR. 4. 3. 1933. S. 3371.

[6] Vgl. Walter Goldinger: Protokolle des Klubvorstandes der Christlichsozialen Partei 1932 . 1934. Wien 1980. S. 126 f.

[7] Vgl. Robert Kriechbaumer: Die großen Erzählungen der Politik. Politische Kultur und Parteien in Österreich von der Jahrhundertwende bis 1945. Wien, Köln, Weimar 2001. S. 234 ff.

[8] Der Österreichische Volkswirt. 4. 3. 1933. S. 5.

[9] Vgl. Protokoll der Sitzung des Parteivorstandes vom 1. März 1933. Studien- und Forschungszentrum der österreichischen Arbeiterbewegung. Wien. S. 2409.

[10] Vgl. StP. 125. Sitzung. NR: 4. 3. 1933. S. 3358.

[11] Vgl. StP. 125. Sitzung. NR. 4. 3. 1933. S. 3361 –  S. 3365.

[12] Vgl. StP. 125. Sitzung. NR. 4. 3. 1933. S. 3365 – 3368.

[13] StP. 125. Sitzung. NR. 4. 3. 1933. S. 3372.

[14] StP. 125. Sitzung. NR. 4. 3. 1933. S. 3386 und S. 3387.

[15] StP. 125. Sitzung. NR. 4. 3. 1933. S. 3392.

[16] Adolf Schärf: Österreichs Erneuerung 1945 – 1955. Das erste Jahrzehnt der Zweiten Republik. Wien 1955. S. 377 f.

[17] Vgl. Karl R. Stadler: Adolf Schärf. Mensch, Politiker, Staatsmann. Wien, München, Zürich 1982. S. 96 f.

[18] Walter Rauscher: Karl Renner. Ein – österreichischer – Mythos. Wien 1995. S. 280.

[19] Vgl. Ernst Hanisch: Der große Illusionist. Otto Bauer (1881 – 1938). Wien, Köln, Weimar 2011. S. 284.

[20] Adolf Schärf: Erinnerungen aus meinem Leben. Wien 1953. S. 117.

[21] Vgl. Hellmut Andics: 50 Jahre unseres Lebens. Österreichs Schicksal seit 1918. Wien, München, Zürich 1968. S. 215 f. Vgl. auch Kurt Schuschnigg: Im Kampf gegen Hitler. Die Überwindung der Anschlussidee. Wien, München, Zürich 1969. S. 139.

[22] Wilhelm Ellenbogen: Menschen und Prinzipien. Erinnerungen. S. 81.

[23] Otto Bauer: Der Aufstand der österreichischen Arbeiter. Seine Ursachen und seine Wirkungen. Prag 1934.

[24] Vgl. Franz Schausberger: Letzte Chance für die Demokratie. Die Bildung der Regierung Dollfuß I im Mai 1932. Bruch der österreichischen Proporzdemokratie. Wien, Köln, Weimar 1993.

[25] Vgl. Ulfried Burz: Von der Tücke zum Detail. S. 285.

[26] Vgl. Isabella Ackerl: Rudolf Ramek. S. 128 f.

[27] Helmut Wohnout: Regierungsdiktatur oder Ständeparlament? Gesetzgebung im autoritären Österreich. Wien, Köln, Graz 1993. S. 63.