Stellungnahme des Karl von Vogelsang-Instituts zur historischen Einordnung Karl Luegers

Franz Schausberger, Hannes Schönner

Einen Tag nach dem Tod Karl Luegers, am 11. März 1910, erschien in der sozialdemokratischen Arbeiter-Zeitung ein bemerkenswert positiv ausgewogener Nachruf, der im dem Satz gipfelte: „Er hat uns nicht geschadet.“

Unter dem Eindruck der aktuellen Diskussion um das Lueger-Denkmal ein überraschender Satz. Gemeint war wohl damit der Umstand, dass die österreichische Sozialdemokratie gleichsam für den Gegner Lueger dankbar war.

Ab dem Ende der 1880-er Jahre stand sowohl bei den Christlichsozialen Luegers als auch bei den Sozialdemokraten das Werben um das politische Erbe des deutschliberalen Machtgefüges im Vordergrund. Lueger gewann diese Auseinandersetzung, wie so viele weitere Kämpfe mit der Sozialdemokratie, was diese nachhaltig schmerzte. Vor allem, wenn man bedenkt, dass zahlreiche Führer der Sozialdemokratie selbst Juden und zugleich – wenigstens in ihrer Jugend – Mitglieder deutschnational-liberaler Vereine und Burschenschaften waren. Kein Widerspruch in der damaligen Zeit und paradox wie so vieles, das uns heute unverständlich erscheint.

Die Sozialdemokratie nannte die Christlichsozialen nur noch die „Antisemiten“. Im Verständnis der damaligen Zeit war das gar nicht so falsch: „Die Juden“, das stand als Kampfbegriff für jeglichen Missstand mit wirtschaftlichem oder gesellschaftlichem Hintergrund. Und Lueger bediente seine Klientel ausgiebig damit, auch wenn seine Polemiken gegen die Juden nicht rassisch begründet waren und er zahlreiche Juden zu seinen Freunden zählte. „Am wenigsten fest saßen seine antisemitischen Gesinnungen in ihm“, heißt es im Nachruf in der Arbeiter-Zeitung. „Mit dem politischen Verstand, mit dem Vorsatz ist Lueger Antisemit gewesen, mit dem Herzen nie.“

Karl Lueger verstand seine Partei als Vertreter der deutschsprachigen, christlichen Österreicher. Mit dem Wort „die Juden“ verstand er auch alle Internationalisten, die den deutschsprachigen Charakter dieser Stadt zu bedrohen schienen. „Es ist nicht der Hass gegen den Einzelnen, nicht der Hass gegen den armen, gegen den kleinen Juden“, erklärte er im Februar 1890 im Abgeordnetenhaus, „wir hassen nichts anderes, als das erdrückende Großkapital, welches sich in den Händen der Juden befindet.“

Es bleibt eine historische Tatsache, dass Lueger viele gesellschaftliche Ungerechtigkeiten beseitigte und – wie von der Arbeiter-Zeitung ehrfürchtig aufgezählt – große soziale Reformen (weitgehend auf Basis von Karl von Vogelsangs Katholischer Soziallehre), durchführte. Weitblickend war Luegers Verständnis von Raumplanung in Kombination mit Grünflächen. Parks und Grünanlagen wurden in allen Bezirken und Vororten angelegt. Alles in allem, machte er Wien zu einer modernen Metropole. Lueger war zweifellos ein Politiker, dem Österreich und seine Heimatstadt Wien enorm viel zu verdanken haben.

Aufgrund Luegers perfekten Kommunalisierungen konnte die Sozialdemokratie zehn Jahre später ein Stadtsystem übernehmen, das kapitalistischen Angriffen von außen Paroli bieten konnte. Das Lueger’sche System kann nicht so schlecht gewesen sein, denn es wurde auch von den Sozialdemokraten später nie geändert. Eisenbahnern und Straßenbahnern galt seine besondere Obsorge. Dass bei Luegers Begräbnis ein Eisenbahnerchor sang, erbitterte die Sozialdemokraten besonders.

Und nun zum Denkmal, das den Namen Karl Luegers trägt: Die einen wollen es abreißen. Andere wollen es schiefstellen. Wieder andere wollen „erläuternde“ Tafeln anbringen (die es schon gibt).

Im Moment ist das Denkmal auf dem Platz, der ebenso wie das Denkmal selbst Luegers Namen trägt, verunstaltet. Von den Behörden offensichtlich geduldet, ist es beschmiert mit Parolen, die die Urheber als – gelinde gesagt – historisch uninformiert ausweisen. Auch Stimmen von (linken) Historikern werden gerne dazu veröffentlicht. So schrieb zuletzt Peter Huemer in der Presse vom 4. November, dass ein „Schiefstellen“ Gäste in Wien zum Nachfragen animieren würde. Lueger sei nun mal ein Antisemit gewesen, ein Vorbild Adolf Hitlers und darüber hinaus ein verwerflicher Machtpolitiker. Ein etwas skurriler Vorwurf angesichts der geradezu sprichwörtlichen uneingeschränkten sozialdemokratischen Machtpolitik in Wien seit 100 Jahren.

Ja, Lueger hat oftmals gegen Juden gewettert und sich andererseits deren Stimmen versichert, sobald es ihm politisch genützt hat. Alles das ist aus heutiger Sicht absolut inakzeptabel. Und Lueger war ein Machtpolitiker. Nachdem er sein Ziel erreicht hatte und Bürgermeister geworden war, flauten seine antisemitischen Reden zusehends ab. Der jüdische Historiker Isak Arie Hellwing kommt in seiner Studie über den konfessionellen Antisemitismus zu folgendem Urteil: „Lueger war nie überzeugter Antisemit.“

Es wäre interessant, zu hören, was die Luegerdenkmal-Stürmer in diesem Zusammenhang zum Renner-Ring und Renner-Denkmal vor dem Parlament sagen. Karl Renner, dem so wie Lueger große Verdienste um Österreich nicht abzusprechen sind, wurde schon 1910 von der Zeitung „Jüdische Volksstimme“ als beschämendes Beispiel dafür genannt, „dass sozialdemokratische Gesinnung mit antisemitischem Pöbelton vereinbar ist.“ Nicht von ungefähr bezeichnete Friedrich Adler ihn schon 1917 als „Lueger der Sozialdemokratie“. Der Journalist, Politikwissenschaftler und redliche Sozialdemokrat Herbert Lackner meinte, was Renner „in den 1920er Jahren im Nationalrat von sich gab, steht den antisemitischen Sagern des notorischen Wiener Bürgermeisters Karl Lueger nicht nach.“ Sogar nach 1945 blieb Renner seiner Linie treu und leistete gegen die Rückkehr von vertriebenen und geflüchteten österreichischen Juden und deren Entschädigungen hinhaltenden Widerstand.

Obwohl Karl Renner das Hitler-Terrorregime in Deutschland bereits seit 1933 kannte, bat er – aus völlig freien Stücken – nach dem Einmarsch der Nationalsozialisten 1938 den Wiener NS-Bürgermeister Hermann Neubacher, ihm die Möglichkeit zu geben, „entweder in der Zeitung oder in Aufrufen, die man auf Plakaten drucken könnte, die alten Sozialdemokraten Wiens in meinem Namen aufzurufen, am 10. April für Großdeutschland und Adolf Hitler zu stimmen.“ Er verwendete nicht den neutralen Begriff „für den Anschluss“ sondern „für Adolf Hitler“. Er wusste, dass seine prominenten Genossen Robert Danneberg, Felix Kanitz (beide Juden) und Paul Schlesinger bereits von den Nazis verhaftet und ins KZ gebracht worden waren, wo sie später umkamen.

Ist es nicht unerträglich, dass das Straßenstück vor dem Österreichischen Parlament, der wichtigsten Institution der Unabhängigkeit des demokratischen Österreichs, nach jemandem benannt ist, der sich 1938 bei den Nationalsozialisten ohne Not und Zwang andiente, eine aktive Ja-Kampagne für das Auslöschen Österreichs zu starten?

Es stellt sich die Frage: In welche Lage soll das Renner-Denkmal gebracht werden? Und welchen Namen sollte der Renner-Ring bekommen?

Kehren wir doch im Zuge des Wiedereinzuges des Nationalrats in das dann renovierte Parlamentsgebäude wieder zurück zu dem Namen, der bis 1956 gegolten hatte: Parlaments-Ring. Damit kann sich ganz Österreich identifizieren.

Franz Schausberger, Universitätsprofessor für Neuere Österreichische Geschichte, Präsident des Karl-von-Vogelsang Instituts.

Hannes Schönner, Historiker, Geschäftsführer des Karl-von-Vogelsang Instituts.