Februar 1934 – Fakten und Mythen

Kurt Bauer[1]

Der 12. Februar 1934 war ein Montag. Um 7 Uhr morgens traf beim Hotel Schiff in der Landstraße 36 in Linz ein 20-köpfiges Aufgebot von Sicherheitswache- und Kriminalbeamten ein. Die Polizisten sollten in dem Gebäude, das als Hauptquartier der Sozialdemokratischen Partei Oberösterreichs diente, nach versteckten Waffen des Republikanischen Schutzbundes suchen. Sie fanden die ebenerdigen Räume verlassen vor, vernahmen aber im oberen Stock – wo die Landesleitung des Schutzbundes saß – den Ruf „Zu den Waffen!“. Die rund 40 Schutzbündler, die hier Bereitschaft hielten, eilen in den hinteren Gebäudeteil, wo in einem Raum über einem Kinosaal Waffen bereitstanden. Hier verschanzten sie sich und rückten ein Maschinengewehr ans Fenster. Als die Polizisten in diesen Gebäudeteil vordrangen, eröffneten die Schutzbündler das Feuer und vertrieben die Beamten. Vorläufig.

Der SDAP-Landesparteisekretär und Führer des oberösterreichischen Schutzbundes Richard Bernaschek hatte sich mittlerweile in seinem Büro eingeschlossen. Per Telefon alarmierte er den Schutzbund, erteilte einem Vertrauensmann den Auftrag, die Parteiführung in Wien zu verständigen und erreichte dann den oberösterreichischen Landeshauptmann Schlegel, den er um seine Intervention bat. Schließlich brachen die Polizisten die Tür auf, Bernaschek ließ sich widerstandslos abführen.

Was war geschehen? Aufgebracht durch die fortgesetzten Provokationen der vorangegangenen Tage (Hausdurchsuchungen in sozialdemokratischen Gebäuden überall in Österreich, die Verhaftung der wichtigsten Führer des Republikanischen Schutzbundes) und dem sich abzeichnenden inneren Zusammenbruch der Sozialdemokratischen Partei hatte Bernaschek am 11. Februar per Boten einen Brief an die Parteiführer in Wien geschickt: „Wenn morgen, Montag, in einer oberösterreichischen Stadt mit einer Waffensuche begonnen wird oder wenn Vertrauensmänner der Partei beziehungsweise des Schutzbundes verhaftet werden sollten, wird gewaltsamer Widerstand geleistet und in Fortsetzung des Widerstandes zum Angriff übergegangen werden.“ Dieser Beschluss sei unabänderlich. Man zähle auf die Solidarität der Genossen in Wien und in ganz Österreich. Parteiführer Otto Bauer versuchte, Bernaschek zu stoppen. Ein verschlüsselter Anruf erreichte die Linzer Parteizentrale mitten in der Nacht. Die seltsame Nachricht wurde abgehört, die Linzer Polizei entschloss sich, mit der für Montag an anderer Stelle vorgesehene Waffensuche im Hotel Schiff zu beginnen.

Vom der Linzer Parteizentrale dehnte sich der Aufstand auf weitere Teile von Linz, auf Steyr und andere Orte in Oberösterreich aus, dann auf Wien, Graz, die obersteirische Industrieregion, einige niederösterreichische und weitere Orte in Tirol und Salzburg. Es kam teilweise zu intensiven, verlustreichen Auseinandersetzungen – am ärgsten am 13. und 14. Februar im Wiener Gemeindebezirk Floridsdorf –, aber nirgendwo dauerten die Auseinandersetzungen länger als ein paar Stunden oder ein bis maximal zwei Tage. Die Regierungseinheiten gewannen rasch überall die Oberhand.

Hier ist nicht der Platz, die Vorgeschichte, den Verlauf und die Hintergründe des sozialdemokratischen Februaraufstandes im Detail darzustellen. Nachfolgend soll auf einige wichtige, in der Historiographie strittige Punkte näher eingegangen werden.

Der provozierte Aufstand

Die Ernennung Hitlers zum deutschen Reichskanzler am 30. Jänner 1933 und die darauf folgende nationalsozialistische „Revolution“ hatte auch die österreichische Politik in ihren Grundfesten erschüttert. Die österreichischen Nationalsozialisten, die in den Jahren 1931 und 1932 beträchtlich an Einfluss gewonnen hatten, rüttelten an die Tür der Macht. Die Sozialdemokraten hingegen gerieten heillos in die Defensive. Dollfuß, dessen Regierung ohnehin seit ihrem Bestehen in größter Bedrängnis war, nutzte eine Geschäftsordnungskrise des Nationalrates, um fortan mit Notverordnungen und ohne Parlament zu regieren. Er verhandelte vorerst mit den Nationalsozialisten, ohne dabei zu einem greifbaren Ergebnis zu kommen. Zugleich suchte und fand er Rückendeckung beim italienischen Diktator Mussolini. Das gelang, hatte aber einen hohen Preis.

Den Sozialdemokraten gegenüber zeigte sich Kanzler Dollfuß spröde, wies diese aber nie brüsk zurück, sondern tat alles, um sie mit vagen Versprechungen hinzuhalten. Zugleich setzte er freilich weitere, die Situation stets eine Spur verschärfende Schritte. „Die Sozi haben sich alles gefallen lassen, wie sie sich sagen, es sind noch immer nicht die Nazi“, bekundete er in einer Sitzung des christlichsozialen Klubvorstandes vom 3. Mai 1933. Manche würden ihn zu schärferen, rascheren Maßnahmen drängen. „Aber nichts geht den Sozi mehr auf die Nerven als diese gewisse langsame Taktik. Alles auf einmal bringt die Leute zum Kampf.“

Spätestens seit August 1933, nachdem er im adriatischen Badeort Riccione mit Mussolini zusammengetroffen war, stand Dollfuß unter starkem Druck aus Italien, endlich den entscheidenden Schlag gegen die Sozialdemokratie zu führen. Am 11. September hielt er bei einer Kundgebung auf dem Wiener Trabrennplatz die von Mussolini geforderte große programmatische Rede, in dem er sich zum autoritären Staat auf ständischer Grundlage bekannte und das Ende „marxistischer Volksführung und Volksverführung“ verkündete. Unnachgiebig und siegessicher zugleich gab er sich am 3. Oktober im christlichsozialen Klubvorstand: „Die Sozi werden innerlich zusammenbrechen, ich bin genau informiert, immer am Laufenden. Wenn sie Dummheiten machen, werden wir mit aller Brutalität vorgehen. In den nächsten fünf Minuten ist Standrecht in Österreich.“

In den folgenden Wochen setzte Dollfuß seine Hinhaltetaktik fort. Nach einem Besuch des italienischen Unterstaatssekretärs Fulvio Suvich in Wien Mitte Jänner 1934, intensivierten sich die Bemühungen des Dollfuß-Regimes dann erkennbar. Systematisch wurde ab Ende Jänner in Gebäuden der SDAP und von sozialdemokratischen Kommunalverwaltungen nach Waffen gesucht, sukzessive die wichtigsten Führer des Schutzbundes verhaftet. Am 8. und 9. Februar durchsuchte die Polizei das Gebäude der sozialdemokratischen Parteileitung in Wien.

Aus zahlreichen weiteren Indizien für die intensiven Bemühungen, die Sozialdemokraten immer weiter in die Enge zu treiben und zu „Dummheiten“ zu provozieren, sei nur jene vielzitierte Rede des Sicherheitsministers und Heimwehrführers Emil Fey herausgegriffen, der am Sonntag, dem 11. Februar 1934 vor Angehörigen der Heimwehr verkündete, man wolle am kommenden Tag „an die Arbeit“ gehen und „ganze Arbeit leisten“. Was genau damit gemeint war, erschließt sich aus den vagen Andeutungen Feys nicht. Letztlich wirkten die mit drohendem Unterton gesprochene Worte aber wie der berühmte Funke im Pulverfass. Und genau das war wohl damit beabsichtigt gewesen.

Die Todesopfer

Die Anzahl der aufgrund der Februarkämpfe getöteten Personen war viele Jahrzehnte lang eine offene Frage der österreichischen Geschichtsforschung. Zwar lagen offizielle Angaben des Dollfuß-Regimes vor (118 Tote der Exekutive, 196 Tote des Schutzbundes), die aber stets angezweifelt wurden. Von 1000 bis 1200 (in einer kommunistischen Darstellung der Kämpfe), 1600 (Hitler in einem Interview) oder gar 1500 bis 2000 Toten (G. E. R. Gedye, einflussreicher linksgerichteter britischer Journalist) war die Rede. In vielen Publikationen der Zweiten Republik wurden diese Angaben ohne kritische Prüfung fortgeschrieben. Daneben existierten allerdings seriöse Schätzungen namhafter Historiker, die von ungefähr 340 bis 380 Todesopfern ausgingen.

Der Autor des vorliegenden Beitrags befasste sich in den Jahren 2013/14 im Rahmen eines vom Zukunftsfonds der Republik Österreich geförderten Forschungsprojektes mit der namentlichen Erfassung sämtlicher Toten, die als Opfer des Februaraufstandes zu werten sind. Es lassen sich insgesamt 357 infolge der Kämpfe ums Leben gekommene Personen ermitteln. Aufgrund einiger Unklarheiten sollte man aber besser von ungefähr 350 bis 360 Toten sprechen. Diese Zahl liegt im Rahmen der erwähnten seriösen Schätzungen. Als überraschend muss allerdings die Zusammensetzung der Opfer bezeichnet werden. Demnach sind 111 Tote dem Schutzbund und seinen Verbündeten, 112 Tote der Exekutive (Polizei und Gendarmerie, Bundesheer, Wehrverbände) und 134 Tote der Seite der Nicht-Kombattanten (Unbeteiligte, Zufallsopfer) zuzurechnen, darunter 28 Frauen und fünf Kinder.

„Arbeitermörder“ Dollfuß?

Die Wurzeln dieses Fluchwortes liegen in den Vorgängen des Februar 1934. Gemeint ist damit zum einen der Einsatz der Artillerie des Bundesheeres gegen Wohnhäuser – hauptsächlich die ikonischen Gemeindebauten des „Roten Wien“ – während der Kämpfe, zum anderen die standrechtliche Hinrichtung von neun Februarkämpfern.

Zum Vorwurf „Kanonen auf Arbeiterhäuser“: Dabei handelt es sich um das Framing eines historischen Vorgangs, der gerechterweise auch ganz anders gelesen werden kann. Denn schließlich waren es die aufständischen Schutzbündler gewesen, die diese Wohnhäuser mit Maschinengewehren, Karabinern, Handgranaten und ähnlichen Waffen besetzt, aus ihrem Schutz heraus auf die heranrückende Polizei gefeuert und dieser schwere Verluste beigefügt hatten. Das führte dazu, dass die Regierung – anstatt noch Hunderte Angehörige der Exekutive im offenen Anrennen gegen diese Festungen in den Tod zu schicken – gar nicht anders konnte, als die stärkste, einzig wirklich überlegene Waffe, die ihr zur Verfügung stand, einzusetzen. Und das war nun einmal die Artillerie des Bundesheeres.

Wie sich bei näherer Betrachtung zeigt, ging das Militär dabei durchaus maßvoll vor, warnte die Hausbewohner in der Regel und gab ihnen ausreichend Zeit, sich in Sicherheit zu bringen. Zudem wurde die verwendete Munition so eingestellt, dass die verursachten Schäden vergleichsweise gering waren. Insgesamt elf Personen kamen in direkter oder indirekter Folge des Artilleriebeschusses ums Leben (gerade drei Prozent aller Februartoten).

Der Artillerieeinsatz führte in jedem Fall zur raschen Beendigung der jeweiligen Kämpfe vor Ort. Die ersten Detonationen und die damit verbundenen Erschütterungen führten dazu, dass die Schutzbündler sofort den Kampfplatz räumten. Gerade durch diesen letztlich maßvollen und taktisch geschickten Artilleriebeschuss wurde eine wesentlich höhere Zahl an Opfern auf beiden Seiten und unter Unbeteiligten verhindert.

Ungleich schwerer wiegt der zweite Vorwurf. Insgesamt hielten Standgerichte zwischen 14. und 26. Februar 1934 dreißig Verfahren wegen des Februar­aufstandes ab. Die Gerichte sprachen 24 Todesurteile aus, neun davon wurden vollstreckt. Mit nichts setzte sich das Dollfuß-Regime im Februar 1934 so sehr ins Unrecht als mit diesen überhasteten, schlampig durchgeführten Prozessen. Es ist nicht verfehlt, von einer überzogenen, politisch überaus unklugen Rachejustiz zu sprechen. Dass die Hinrichtungen zur „Abschreckung“, wie es hieß, nötig gewesen wären, ist nicht nachvollziehbar. Als die ersten Urteile am Abend des 14. Februar vollstreckt wurden, war der Aufstand im Grunde bereits zusammengebrochen. Verurteilte, die möglicherweise durchaus verwerfliche Taten begangen hatten (Rauchenberger, Hoys, Ahrer, Bulgari), wurden wegen der drakonischen Urteile mit einem Mal zu Märtyrern der Arbeiterbewegung.

Waren die Februarkämpfe ein Bürgerkrieg?

Im Zusammenhang mit den Ereignissen des Februar 1934 ist es in Medien, aber auch in der Fachliteratur seit Jahren üblich, von einem „Bürgerkrieg“ zu sprechen. Die Fragwürdigkeit dieser Bezeichnung wird allein schon dann offensichtlich, wenn man den Vergleich zu einem zeitnahen Ereignis wie dem Spanischen Bürgerkrieg zieht, der in jahrelangen schweren, feldmäßig geführten Kämpfen, die fast alle Teile des großen Landes berührten, Hunderttausende Todesopfer forderte.

Die Auseinandersetzungen in Österreich hingegen konzentrierten sich auf einige – längst nicht alle – industrialisierten Teile des Landes, sie dauerten allerhöchstens vier Tage, die Zahl der Opfer lag bei 360 Toten, und es gelang den Aufständischen nie, mehr als ein paar Häuserblocks in Arbeitervierteln für einige Stunden zu kontrollieren. In diesem Sinne und in Übereinstimmung mit den gängigen Definitionen des internationalen Strafrechts und der Politikwissenschaft sind die Vorgänge in Österreich im Februar 1934 tatsächlich als innere Unruhen oder als Aufstand, aber keinesfalls als Bürgerkrieg zu werten.

Kämpften die Schutzbündler für die Wiedererrichtung der parlamentarischen Demokratie?

Auf Dutzenden Gedenksteinen und Denkmälern, die nach 1945 im Andenken an die Toten des Schutzbundes während des Februaraufstandes errichtet wurden, ist vom „Kampf für die Demokratie“ die Rede. Aber war es im Februar 1934 tatsächlich das Ziel der Aufständischen, den alten verfassungsmäßigen Zustand wiederherzustellen und nach einem gewonnenen Kampf zur parlamentarischen Demokratie zurückzukehren? Im einzigen überlieferten direkten Kampfaufruf vom 12. Februar 1934, einer Extraausgabe des steirischen sozialdemokratischen Parteiorgans „Arbeiterwille“, ist jedenfalls von Demokratie keine Rede, vielmehr wird zum „Endkampf“ gegen Kapitalismus, Faschismus und für den Sozialismus aufgerufen.

Die Linken in der Sozialdemokratie – also diejenigen, die in der bedrängten Situation zwischen März 1933 und Februar 1934 im Gegensatz zu den Zentristen und Rechten in der SDAP zum bewaffneten Kampf drängten – dachten keineswegs daran, die parlamentarische Demokratie wiederherzustellen. Richard Bernaschek etwa pochte darauf, dass der Parlamentarismus durch die „Diktatur des Proletariats“ ersetzt werden müsse. Oder beispielsweise die linke Intellektuelle Käthe Leichter im November 1933: Das Endziel des Kampfes gegen den Faschismus könne nicht die bürgerliche Demokratie sein, sondern es gelte, die einmal gewonnene Macht mit „diktatorischen Mitteln“ zu behaupten. Nur so sei man vor „Rückschlägen“ gesichert – nämlich, dass in regelmäßigen freien Wahlen „eine sozialistische Regierung unfehlbar wieder von einer bürgerlichen abgelöst“ werde, weil man den Bürgerlichen „großherzig“ Spielraum zur Gegenagitation gelassen habe.

Unmittelbar nach dem Zusammenbruch des Aufstandes bediente sich schließlich auch der ins tschechische Exil geflüchtete Parteiführer Otto Bauer einer ähnlichen Diktion: „Nicht die Wiederherstellung der bürgerlichen Demokratie von gestern, sondern eine revolutionäre Diktatur als Übergangsform zu einer echten, auf das Eigentum des Volkes an seinen Arbeitsmitteln und an seinem Arbeitsertrag gegründeten, also sozialistischen Demokratie ist unser Ziel.“

Es gab zweifellos gewichtige Stimmen in der SDAP, die für eine gemeinsame Anti-Hitler-Koalition mit Dollfuß und für eine pluralistische Demokratie eintraten. Aber diese eher älteren, gemäßigten und der Rechten innerhalb der Sozialdemokratie zuzurechnenden Parteiführer waren nicht diejenigen, die einen bewaffneten Kampf befürworteten, sondern sie zählten zu jenen, die vorübergehend sogar zu weiteren Zugeständnissen an Dollfuß bereit waren.

Der Aufstand, an den niemand glaubte

Der einzig namhafte sozialdemokratische Führer, der sich am Aufstand des Schutzbundes beteiligte, war der steirische Nationalratsabgeordnete und Landesparteisekretär Koloman Wallisch. Er tat es entgegen seiner inneren Überzeugung. Bevor es zu Mittag des 12. Februar 1934 in seiner politischen Heimat Bruck an der Mur losging, bekannte er seine Frau: „Ich bin überzeugt davon, dass es ein organisierter Selbstmord ist, jetzt, da die Regierung bereits so überaus stark mit Militär und Waffen und Munition ausgerüstet ist.“ Richard Bernaschek, der den Aufstand auslöste, war in seinem Büro im Hotel Schiff verhaftet worden, bevor auch nur ein Schuss gefallen war. Vieles deutet darauf hin, dass ihn im entscheidenden Moment der Mut verließ, sosehr er auch vorher vollmundig zum bewaffneten Widerstand gedrängt hatte. Wenig heldenhaft verhielten sich auch die beiden Führer des Aufstandes in Wien, Parteiführer Otto Bauer und Schutzbundführer Julius Deutsch. Während die Kämpfe noch in Gang waren, setzten sie sich in die Tschechoslowakei ab und ließen die Kämpfer führungslos zurück.

Manche Schutzbundführer zogen es vor unterzutauchen oder sich von der Polizei verhaften zu lassen, statt den aussichtslosen Kampf anzuführen und in einen sinnlosen Tod zu gehen. Auch die defensive Verhaltensweise der meisten „einfachen“ Kämpfer, die sich häufig in Wohngebäuden verschanzten, entsprach so gar nicht ihrem angeblichen Ziel, die Dollfuß-Regierung stürzen zu wollen. Das wäre nur durch überfallsartiges, rasch zupackendes, in jedem Fall offensives Vorgehen möglich gewesen. Bezeichnenderweise erklärte etwa Georg Strecha, einer der Schutzbündler, die den Goethehof in Wien-Kaisermühlen besetzt hatten, seinem jüngeren Bruder Valentin: „Das ist eh klar, der ganze Einsatz da ist jetzt für nichts, außer für das, dass sie nicht sagen können, wir haben kapituliert, ehrlos kapituliert. Aber herausschauen wird nichts.“

Aber für die „Ehre“ der Sozialdemokratie sterben, wer wollte das wirklich? Die Mitglieder der Wiener Stadtregierung jedenfalls nicht. Sie warteten am Nachmittag des 12. Februar im Wiener Rathaus schicksalsergeben auf ihre Verhaftung. Keiner von ihnen wäre auf die Idee verfallen, das Rathaus durch den Schutzbund militärisch sichern und verteidigen zu lassen. Auch andere gemäßigte führende SDAP-Funktionäre wie etwa Theodor Körner, Karl Renner oder Oskar Helmer verhielten sich am 12. Februar so, dass sie möglichst rasch festgenommen wurden, um nicht in den Verdacht geraten zu können, sie hätten sich am Aufstand beteiligt und würden nun unter das Standrecht zu fallen.

Fazit

Was sind die Gründe für den raschen Zusammenbruch des Aufstandes? Es gibt ein Bündel von Ursachen, zwei sind besonders hervorzuheben.

Erstens: Selbst die schärfste Waffe der Arbeiterbewegung, der Generalstreik, ist in Zeiten von Massenelend und Massenarbeitslosigkeit letztlich stumpf. Die Arbeitslosen und Elenden können nicht streiken und diejenigen, die noch Arbeit haben, werden sich im Normalfall hüten, ihre eigene und die Existenz ihrer Familie für die Beteiligung an einem solchen Unternehmen, dessen Ausgang selbst im besten Fall – einer weitgehend lückenlosen Befolgung des Streikaufrufs – höchst ungewiss sein musste, aufs Spiel zu setzen. (Otto Bauer und andere sozialdemokratische Führer wussten das übrigens ganz genau.)

Zweitens: Wie sollte der Aufstand einer, wenngleich einigermaßen adäquat gerüsteten, zahlenmäßig starken und von erfahrenen Frontoffizieren geführten, aber insgesamt längst desillusionierten Amateurtruppe, wie es der Republikanische Schutzbund nun einmal war, gegen reguläre Einheiten des Militärs gelingen? Noch dazu, wo die geschlossene Unterstützung aus der Arbeiterschaft höchst ungewiss war – und tatsächlich, wie sich sofort zeigen sollte, fast vollständig ausblieb. Nicht ohne Grund hatte General Körner, der spätere Wiener Bürgermeister und österreichische Bundespräsident, am 11. Februar, einen Tag vor Ausbruch der Kämpfe, Otto Bauer geradezu beschworen, einen bewaffneten Aufstand unter allen Umständen zu vermeiden. Zu schlecht sei die Moral der Truppe, und von einer revolutionären „Erregung“ in der Bevölkerung könne schon gar nicht die Rede sein.

Tatsächlich brach der von der SDAP-Parteileitung ausgerufene Streik, sofern er überhaupt befolgt wurde, binnen kürzester Zeit zusammen. Verheerend aus Sicht des Schutzbundes war vor allem, dass die Eisenbahnen unverdrossen fuhren, als wäre nichts passiert. Und selbst diejenigen, die sich zur Teilnahme am bewaffneten Kampf hinreißen ließen, flüchteten in der Regel sofort von ihrem Posten, als ernsthafte Gefahr in Form der Kanonen des Bundesheeres drohte.

Zweifellos stolperten die Sozialdemokraten in den Kampf hinein, ohne ihn wirklich gewollt und an seine Erfolgsaussichten geglaubt zu haben. Hunderte Todesopfer waren die Folge. Die Hauptverantwortung, dass es so weit gekommen war, lag allerdings eindeutig auf Seiten der Dollfuß-Regierung und ihres zweifelhaften Bündnispartners, der faschistischen Heimwehrbewegung.

Ungehört verhallte ein Appell des aufrechten, demokratisch gesinnten Christlichsozialen – und leider auch unverbesserlichen Antisemiten – Leopold Kunschak. Am 9. Februar 1934 sprach er sich im Wiener Gemeinderat ohne Wenn und Aber für eine Weggemeinschaft mit den Sozialdemokraten gegen den Nationalsozialismus aus und beendete seine Rede mit dramatischen, aber angemessenen Worten: „Gebe Gott, dass die Zerrissenheit des Geistes und der Seele von unserem Volke und seinen Führern bald sich hebe, ehe Volk und Land an Gräbern steht und weint.“

Literatur:

Kurt Bauer: Der Februaraufstand. Fakten und Mythen. Böhlau Verlag, Wien, Köln, Weimar 2019.

Ernst Hanisch: Februar 1934: Mythen und Fakten. In: Beruf(ung): Archivar. Festschrift für Lorenz Mikoletzky. Teil II. Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 55/2011. S. 1147–1159.

Ausführliche Informationen zu den Februaropfern unter: http://www.kurt-bauer-geschichte.at/forschung_februaropfer.htm


[1] Dr. Kurt Bauer (*1961), Historiker und langjähriger Verlagslektor. Seine Dissertation befasste sich mit sozialgeschichtlichen Aspekten des nationalsozialistischen Juliputsches 1934. Er war seit 2007 Mitarbeiter des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Historische Sozialwissenschaften und seit 2019 des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgenforschung. Kurt Bauer setzte sich in mehreren Monographien zum Nationalsozialismus bzw. zum Juliputsch 1934 auseinander. Im Jahre 2019 veröffentlichte er das vielbeachtete Buch „Der Februaraufstand 1934. Fakten und Mythen.“